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Der Untertan/Kapitel III

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198597Der Untertan — Kapitel III1918Heinrich Mann
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III.

 

Um weiteren Belästigungen durch die Familie Göppel aus dem Wege zu gehen, reiste er sogleich ab. Die Hitze machte das Kupee zu einem unheimlichen Aufenthalt. Diederich, der allein war, zog nacheinander den Rock, die Weste und die Schuhe aus. Einige Stationen vor Netzig stieg noch jemand ein: zwei fremd aussehende Damen, die durch den Anblick von Diederichs Flanellhemd beleidigt schienen. Er seinerseits fand sie widerwärtig elegant. Sie unternahmen es, in einer unverständlichen Sprache eine Beschwerde an ihn zu richten, worauf er die Achseln zuckte und die Füße in den Socken auf die Bank legte. Sie hielten sich die Nase zu und stießen Hilferufe aus. Der Schaffner erschien, der Zugführer selbst, aber Diederich hielt ihnen sein Billett zweiter Klasse hin und verteidigte sein Recht. Er gab dem Beamten sogar zu verstehen, er möge sich nur nicht die Zunge verbrennen, man könne nie wissen, mit wem man es zu tun habe. Als er dann den Sieg erstritten hatte und die Damen abgezogen waren, kam statt ihrer eine andere. Diederich sah ihr entschlossen entgegen, aber sie zog einfach aus ihrem Beutel eine Wurst und aß sie aus der Hand, wobei sie ihm zulächelte. Da rüstete er ab, erwiderte, breit glänzend, ihre Sympathie und sprach sie an. Es stellte sich heraus, daß sie aus Netzig war. Er nannte seinen Namen, woraus sie frohlockte, sie seien alte Bekannte! „Nun?“ Diederich betrachtete sie forschend: das dicke, rosige Gesicht mit dem fleischigen Mund und der kleinen, frech eingedrückten Nase; das weißliche Haar, nett glatt [ 114 ]und ordentlich, den Hals, der jung und fett war, und in den Halbhandschuhen die Finger, die die Wurst hielten und selbst rosigen Würstchen glichen. „Nein,“ entschied er, „kennen tu’ ich Sie nicht, aber kolossal appetitlich sind Sie. Wie ein frischgewaschenes Schweinchen.“ Und er griff ihr um die Taille. Im selben Augenblick hatte er eine Ohrfeige. „Die sitzt“, sagte er und rieb sich. „Haben Sie mehr solche zu vergeben?“ — „Es langt für alle Frechmöpse.“ Sie lachte aus der Kehle und zwinkerte ihn mit ihren kleinen Augen unzüchtig an. „Ein Stück Wurst können Sie haben, aber sonst nichts.“ Ohne zu wollen, verglich er ihre Art, sich zu wehren, mit Agnes’ Hilflosigkeit, und er sagte sich: „So eine könnte man getrost heiraten.“ Schließlich nannte sie selbst ihren Vornamen, und als er noch immer nicht weiterfand, fragte sie nach seinen Schwestern. Plötzlich rief er: „Guste Daimchen!“ Und beide schüttelten sich vor Freude. „Sie haben mir doch immer Knöpfe geschenkt von den Lumpen in Ihrer Papierfabrik. Das vergess’ ich Ihnen nie, Herr Doktor! Wissen Sie, was ich mit den Knöpfen gemacht hab’? Die hab’ ich gesammelt, und wenn meine Mutter mir mal Geld für Knöpfe gab, hab’ ich mir Bonbons gekauft.“

„Praktisch sind Sie auch!“ Diederich war entzückt. „Und dann sind Sie immer zu uns über die Gartenmauer geklettert, Sie kleine Göre. Hosen hatten Sie meistenteils keine an, und wenn der Rock ’raufrutschte, kriegte man hinten was zu sehen.“

Sie kreischte; ein feiner Mann habe für so was kein Gedächtnis. „Jetzt muß es aber noch schöner geworden sein“, setzte Diederich noch hinzu. Sie ward plötzlich ernst.

„Jetzt bin ich verlobt.“

Mit dem Wolfgang Buck war sie verlobt! Diederich [ 115 ]verstummte, mit enttäuschter Miene. Dann erklärte er zurückhaltend, er kenne Buck. Sie sagte vorsichtig: „Sie meinen wohl, er ist ein bißchen überspannt? Aber die Bucks sind auch eine sehr feine Familie. Na ja, in anderen Familien ist wieder mehr Geld“, setzte sie hinzu. Hierdurch betroffen, sah Diederich sie an. Sie zwinkerte. Er wollte eine Frage stellen; aber er hatte den Mut verloren.

Kurz vor Netzig fragte Fräulein Daimchen: „Und Ihr Herz, Herr Doktor, ist noch frei?“

„Um die Verlobung bin ich noch herumgekommen.“ Er nickte gewichtig. „Ach! Das müssen Sie mir erzählen“, rief sie. Aber sie fuhren schon ein. „Wir sehen uns hoffentlich bald wieder“, schloß Diederich. „Ich kann Ihnen nur sagen, ein junger Mann kommt manchmal in verdammt brenzlige Sachen hinein. Für ein Ja oder Nein ist das Leben verpfuscht.“

Seine beiden Schwestern standen am Bahnhof. Wie sie Guste Daimchen erblickten, verzogen sie zuerst das Gesicht, dann aber stürzten sie herbei und halfen das Gepäck tragen. Sie erklärten ihren Eifer, kaum daß sie mit Diederich allein waren. Guste hatte nämlich geerbt, sie war Millionärin! Darum also! Er war erschrocken vor Hochachtung.

Die Schwestern erzählten das Nähere. Ein alter Verwandter in Magdeburg hatte Guste all das Geld vermacht, dafür, daß sie ihn gepflegt hatte. „Und sie hat es sich verdient,“ bemerkte Emmi, „er soll zuletzt furchtbar unappetitlich gewesen sein.“ Magda setzte hinzu: „Und sonst kann man sich natürlich auch noch allerlei denken, denn Guste war doch ein ganzes Jahr mit ihm allein.“

Sofort bekam Diederich einen roten Kopf. „So was sagt ein junges Mädchen nicht!“ schrie er entrüstet; und [ 116 ]als Magda beteuerte, das sagten auch Inge Tietz, Meta Harnisch und überhaupt alle: „Dann fordere ich euch energisch auf, dem Gerede entgegenzutreten.“ Es entstand eine Pause; darauf sagte Emmi: „Guste ist nämlich schon verlobt.“ — „Das weiß ich“, knurrte Diederich.

Bekannte kamen ihnen entgegen, Diederich hörte sich „Herr Doktor“ nennen, erglänzte stolz dabei und ging weiter zwischen Emmi und Magda, die von der Seite seine neue Barttracht bewunderten. Zu Hause empfing Frau Heßling den Sohn mit ausgebreiteten Armen und einem Aufschrei, wie von einer Verschmachtenden, die gerade noch gerettet wird. Und was Diederich nicht vorausgesehen hatte: auch er weinte. Auf einmal empfand er die feierliche Schicksalsstunde, in der er das erstemal als wirkliches Haupt der Familie ins Zimmer trat, „fertig“, mit dem Doktortitel ausgezeichnet und bestimmt, Fabrik und Familie nach seiner überlegenen Einsicht zu lenken. Er gab Mutter und Schwestern die Hände, allen zugleich, und sagte mit ernster Stimme: „Ich werde mir immer bewußt bleiben, daß ich meinem Gott für euch Rechenschaft schulde.“

Aber Frau Heßling war in Unruhe. „Bist du bereit, mein Sohn?“ fragte sie. „Unsere Leute erwarten dich.“ Diederich trank sein Bier aus und ging, an der Spitze der Seinen, hinunter. Der Hof war sauber gescheuert, den Eingang der Fabrik umrahmten Kränze und beschrieben eine Schleife um die Inschrift „Willkommen!“ Davor stand der alte Buchhalter Sötbier und sagte: „Na guten Tag, Herr Doktor. Ich bin nicht ’raufgekommen, weil ich noch was zu tun hatte.“

„Heute hätten Sie das auch lassen können“, erwiderte Diederich und ging an Sötbier vorbei. Drinnen im [ 117 ]Lumpensaal fand er die Leute. Alle standen sie in einem Haufen zusammen: die zwölf Arbeiter, die die Papiermaschine, den Holländer und die Schneidemaschine bedienten, und die drei Kontoristen, samt den Frauen, deren Tätigkeit das Sortieren der Lumpen war. Die Männer räusperten sich, man fühlte eine Pause, bis mehrere der Frauen ein kleines Mädchen hinausschoben, das einen Blumenstrauß vor sich hinhielt und mit einer Klarinettenstimme dem Herrn Doktor Glück und Willkommen wünschte. Diederich nahm mit gnädiger Miene den Strauß; nun war es an ihm, sich zu räuspern. Er wandte sich nach den Seinen um, dann sah er den Leuten scharf in die Augen, allen nacheinander, auch dem schwarzbärtigen Maschinenmeister, obwohl der Blick des Mannes ihm peinlich war — und begann:

„Leute! Da ihr meine Untergebenen seid, will ich euch nur sagen, daß hier künftig forsch gearbeitet wird. Ich bin gewillt, mal Zug in den Betrieb zu bringen. In der letzten Zeit, wo hier der Herr gefehlt hat, da hat mancher von euch vielleicht gedacht, er kann sich auf die Bärenhaut legen. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum, ich sage das besonders für die alten Leute, die noch von meinem seligen Vater her dabei sind.“

Mit erhobener Stimme, noch schneidiger und abgehackter; und dabei sah er den alten Sötbier an:

„Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich.“

Er versuchte, seine Augen blitzen zu lassen, sein Schnurrbart sträubte sich noch höher. [ 118 ]


„Einer ist hier der Herr, und das bin ich. Gott und meinem Gewissen allein schulde ich Rechenschaft. Ich werde euch stets mein väterliches Wohlwollen entgegenbringen, Umsturzgelüste aber scheitern an meinem unbeugsamen Willen. Sollte sich ein Zusammenhang irgendeines von euch —“

Er faßte den schwarzbärtigen Maschinenmeister ins Auge, der ein verdächtiges Gesicht machte.

„— mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so zerschneide ich zwischen ihm und mir das Tischtuch. Denn für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Feind meines Betriebes und Vaterlandsfeind … So, nun geht wieder an eure Arbeit und überlegt euch, was ich euch gesagt habe.“

Er machte schroff kehrt und ging schnaufend davon. In dem Schwindelgefühl, das seine starken Worte ihm erregt hatten, erkannte er kein einziges Gesicht mehr. Die Seinen folgten ihm, bestürzt und ehrfurchtsvoll, indes die Arbeiter einander noch lange stumm ansahen, bevor sie nach den Bierflaschen griffen, die zur Feier des Tages bereitstanden.

Droben legte Diederich vor Mutter und Schwestern seine Pläne dar. Die Fabrik war zu vergrößern, das hintere Nachbarhaus anzukaufen. Man mußte konkurrenzfähig werden. Der Platz an der Sonne! Der alte Klüsing, draußen in der Papierfabrik Gausenfeld, bildete sich wohl ein, er werde ewig das ganze Geschäft machen? … Endlich tat Magda die Frage, woher er denn das Geld nehmen wolle; aber Frau Heßling schnitt ihr das vorlaute Wort ab. „Dein Bruder weiß das besser als wir.“ Vorsichtig setzte sie hinzu: „Manches Mädchen wäre glücklich, wenn sie sein Herz gewinnen könnte“ — und sie hielt, seines Zornes gewärtig, die Hand vor den Mund. Aber [ 119 ]Diederich errötete nur. Da wagte sie, ihn zu umarmen. „Es wäre mir ja ein so entsetzlicher Schmerz,“ schluchzte sie, „wenn mein Sohn, mein lieber Sohn, aus dem Hause ginge. Für eine Witwe ist es doppelt schwer. Die Frau Oberinspektor Daimchen kriegt es nun auch zu fühlen, denn ihre Guste heiratet ja den Wolfgang Buck.“

„Oder auch nicht“, sagte Emmi, die Ältere. „Denn der Wolfgang soll doch was mit einer Schauspielerin haben.“ Frau Heßling vergaß ganz, die Tochter zu berufen. „Aber wo doch so viel Geld da ist! Eine Million, sagen die Leute!“

Diederich stieß verachtungsvoll hervor, den Buck kenne er, der sei nicht normal. „Es liegt wohl in der Familie. Der Alte hat doch auch schon eine Schauspielerin geheiratet.“

„Man sieht die Folgen“, sagte Emmi. „Denn von seiner Tochter, der Frau Lauer, hat man sich allerlei erzählt.“

„Kinder!“ bat Frau Heßling ängstlich. Aber Diederich beruhigte sie.

„Laß nur, Mutter, es wird Zeit, daß man der Katze die Schelle umhängt. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß die Bucks ihre Stellung hier in der Stadt schon längst nicht mehr verdienen. Sie sind eine verrottete Familie.“

„Die Frau von Moritz, dem Ältesten,“ sagte Magda, „ist einfach eine Bäuerin. Neulich waren sie mal in der Stadt, er ist auch schon ganz verbauert.“ Emmi empörte sich.

„Na, und der Bruder des alten Herrn Buck? Immer elegant, und die fünf unverheirateten Töchter! Sie lassen sich Suppe aus der Volksküche holen, ich weiß es positiv.“

„Die Volksküche hat ja der Herr Buck gegründet“, erklärte Diederich. „Und die Fürsorge für die entlassenen Sträflinge auch, und was sonst noch. Ich möchte wissen, wann er eigentlich Zeit hat, an seine eigenen Geschäfte zu denken.“ [ 120 ]


„Es würde mich nicht wundern,“ sagte Frau Heßling, „wenn nicht mehr viel da wäre. Obwohl ich vor dem Herrn Buck natürlich die größte Hochachtung habe, er ist doch so angesehen.“

Diederich lachte bitter. „Warum eigentlich? In der Verehrung des alten Buck sind wir aufgezogen worden. Der große Mann von Netzig! Im Jahre achtundvierzig zum Tode verurteilt!“

„Das ist aber auch ein historisches Verdienst, sagte dein Vater immer.“

„Verdienst?“ schrie Diederich. „Wenn ich nur weiß, einer ist gegen die Regierung, ist er für mich schon erledigt. Und Hochverrat soll ein Verdienst sein?“

Und er stürzte sich, vor den erstaunten Frauen, in die Politik. Diese alten Demokraten, die noch immer das Regiment führten, waren nachgerade die Schmach von Netzig! Schlapp, unpatriotisch, mit der Regierung zerfallen! Ein Hohn auf den Zeitgeist! Weil im Reichstag der alte Landgerichtsrat Kühlemann saß, ein Freund des berüchtigten Eugen Richter, darum stockte hier das Geschäft, und niemand kriegte Geld. Natürlich, für so ein freisinniges Nest gab es weder Bahnanschlüsse noch Militär. Kein Zuzug, kein Betrieb! Die Herren im Magistrat, immer dieselben paar Familien, das kannte man, die schoben sich untereinander die Aufträge zu, und für andere Leute war nichts da. Die Papierfabrik Gausenfeld hatte sämtliche Lieferungen an die Stadt, denn auch ihr Besitzer Klüsing gehörte zu der Bande des alten Buck!

Magda wußte noch etwas. „Neulich ist die Liebhabervorstellung im Bürgerkränzchen abgesagt worden, weil dem Herrn Buck seine Tochter, Frau Lauer, krank war. Das ist doch Popismus.“ [ 121 ]


„Nepotismus heißt es“, sagte Diederich streng. Er rollte die Augen. „Und dabei ist der Herr Lauer ein Sozialist. Aber der Herr Buck mag sich hüten! Wir werden ihm auf die Finger sehen!“

Frau Heßling hob flehend die Hände. „Mein lieber Sohn, wenn du jetzt in der Stadt deine Besuche machst, versprich mir, daß du auch zum Herrn Buck gehst. Er ist nun mal so einflußreich.“

Aber Diederich versprach nichts. „Andere wollen auch ’ran!“ rief er.

Trotzdem schlief er in dieser Nacht unruhig. Schon um sieben ging er in die Fabrik hinunter und schlug sofort Lärm, weil noch die Bierflaschen von gestern umherlagen. „Hier wird nicht gesoffen, hier ist keine Kneipe. Herr Sötbier, das steht doch wohl im Reglement.“ — „Reglement?“ sagte der alte Buchhalter. „Wir haben gar keins.“ Diederich war sprachlos; er schloß sich mit Sötbier ins Kontor ein. „Kein Reglement? Dann wundert mich allerdings gar nichts mehr. Was sind das für lächerliche Bestellungen, mit denen Sie sich da abgeben?“ — und er warf die Briefe auf dem Pult umher. „Es scheint höchste Zeit gewesen zu sein, daß ich eingreife. Das Geschäft versumpft in Ihren Händen.“

„Versumpfen, junger Herr?“

„Ich bin für Sie der Herr Doktor!“ Und er verlangte, daß man einfach alle anderen Fabriken unterbieten solle.

„Das halten wir nicht aus“, sagte Sötbier. „Überhaupt wären wir gar nicht imstande, so große Aufträge auszuführen wie Gausenfeld.“

„Und Sie wollen ein Geschäftsmann sein? Dann stellen wir eben mehr Maschinen ein.“

„Das kostet Geld“, sagte Sötbier. [ 122 ]


„Dann nehmen wir welches auf! Ich werde hier Schneid hineinbringen. Sie sollen sich wundern. Wenn Sie mich nicht unterstützen wollen, mache ich es allein.“

Sötbier wiegte den Kopf. „Mit Ihrem Vater, junger Herr, war ich immer einig. Wir haben zusammen das Geschäft in die Höhe gebracht.“

„Jetzt ist eine andere Zeit, merken Sie sich das. Ich bin mein eigener Geschäftsführer.“

Sötbier seufzte: „Das ist die stürmische Jugend“ — indes Diederich schon die Tür zuwarf. Er durchmaß den Raum, worin die mechanische Trommel, laut schlagend, die Lumpen in Chlor wusch, und wollte das Zimmer des großen Kochholländers betreten. Im Eingang kam ihm unvermutet der schwarzbärtige Maschinenmeister entgegen. Diederich zuckte zusammen, fast hätte er dem Arbeiter Platz gemacht. Dafür rannte er ihn mit der Schulter beiseite, bevor der Mann ausweichen konnte. Schnaufend sah er der Arbeit des Holländers zu, dem Drehen der Walze, dem Schneiden der Messer, das den Stoff in Fasern zerteilte. Grinsten ihn die Leute, die die Maschine bedienten, nicht etwa von der Seite an, weil er vor dem schwarzen Kerl erschrocken war? „Der Kerl ist ein frecher Hund! Er muß ’raus!“ Ein animalischer Haß stieg in Diederich herauf, der Haß seines blonden Fleisches gegen den mageren Schwarzen, den Menschen von einer anderen Rasse, die er gern für niedriger gehalten hätte und die ihm unheimlich schien. Diederich fuhr auf.

„Die Walze ist falsch gestellt, die Messer arbeiten schlecht!“ Da die Leute ihn nur ansahen, schrie er: „Maschinenmeister!“ Und als der Schwarzbärtige eintrat: „Sehen Sie sich die Schweinerei mal an! Die Walze ist viel zu tief auf die Messer gesenkt, sie [ 123 ]zerschneiden mir das ganze Zeug. Ich mache Sie verantwortlich für den Schaden!“

Der Mann beugte sich über die Maschine. „Schaden ist keiner da“, sagte er ruhig, aber Diederich wußte schon wieder nicht, ob er unter seinem schwarzen Bart nicht feixte. Der Blick des Maschinenmeisters hatte etwas düster Höhnisches, Diederich ertrug ihn nicht, er gab es auf zu blitzen und warf nur die Arme. „Ich mache Sie verantwortlich!“

„Was ist denn los?“ fragte Sötbier, der den Lärm gehört hatte. Dann erklärte er dem Herrn, daß der Stoff durchaus nicht zu kleinfaserig geschnitten werde, und daß es immer so gemacht worden sei. Die Arbeiter nickten mit den Köpfen, der Maschinenmeister stand gelassen dabei. Diederich fühlte sich einem Kompetenzstreit nicht gewachsen, er schrie noch: „Dann wird es künftig gefälligst anders gemacht!“ und kehrte plötzlich um.

Er gelangte in den Lumpensaal, und er gab sich Haltung, indem er fachkundig die Frauen überwachte, die auf den Siebplatten der langen Tische die Lumpen sortierten. Als eine kleine dunkeläugige es unternahm, ihn aus ihrem bunten Kopftuch heraus ein wenig anzulächeln, prallte sie gegen eine so harte Miene, daß sie erschrak und sich duckte. Farbige Fetzen quollen aus den Säcken, das Getuschel der Frauen verstummte unter dem Blick des Herrn, und in der warmen, dumpfigen Luft war nichts mehr zu vernehmen als das leise Rattern der Sensen, die in die Tische gerammt, die Knöpfe abschnitten. Aber Diederich, der die Heizungsrohre untersuchte, hörte etwas Verdächtiges. Er beugte sich hinter einen Haufen Säcke — und fuhr zurück, errötet und mit zitterndem Schnurrbart. „Nun hört alles auf!“ schrie er, „’rauskommen!“ Ein [ 124 ]junger Arbeiter kroch hervor. „Das Frauenzimmer auch!“ schrie Diederich. „Wird’s bald?“ Und, als endlich das Mädchen sich zeigte, stemmte er die Fäuste in die Hüften. Hier ging es ja heiter zu! Seine Fabrik war nicht nur eine Kneipe, sondern noch ganz was anderes! Er zeterte, daß alles zusammenlief. „Na, Herr Sötbier, dies ist wohl auch immer so gemacht worden? Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Erfolgen. Also die Leute sind gewohnt, die Arbeitszeit zu benutzen, um sich hinter den Säcken zu amüsieren. Wie kommt der Mann hier herein?“ Es sei seine Braut, sagte der junge Mensch. „Braut? Hier gibt es keine Braut, hier gibt es nur Arbeiter. Ihr beide stehlt mir die Arbeitszeit, die ich euch bezahle. Ihr seid Schweine und außerdem Diebe. Ich schmeiß’ euch ’raus, und ich zeig’ euch an, wegen öffentlicher Unzucht!“

Er sah herausfordernd umher.

„Deutsche Zucht und Sitte verlang’ ich hier. Verstanden?“ Da traf er den Maschinenmeister. „Und ich werde sie durchführen, auch wenn Sie da ein Gesicht schneiden!“ schrie er.

„Ich habe kein Gesicht geschnitten“, sagte der Mann ruhig. Aber Diederich war nicht länger zu halten. Endlich konnte er ihm etwas nachweisen!

„Ihr Benehmen ist mir schon längst verdächtig! Sie tun Ihren Dienst nicht, sonst hätte ich die beiden Leute nicht abgefaßt.“

„Ich bin kein Aufpasser“, warf der Mann dazwischen.

„Sie sind ein widersetzlicher Bursche, der die ihm unterstellten Leute an Zuchtlosigkeit gewöhnt. Sie arbeiten für den Umsturz! Wie heißen Sie überhaupt?“

„Napoleon Fischer“, sagte der Mann. Diederich stockte.

„Nap—. Auch das noch! Sie sind Sozialdemokrat?“ [ 125 ]


„Jawohl.“

„Dachte ich mir. Sie sind entlassen.“

Er wandte sich nach den Leuten um: „Merkt euch das!“ — und verließ schroff den Raum. Auf dem Hof lief Sötbier ihm nach. „Junger Herr!“ Er war in großer Aufregung und wollte nichts sagen, bevor sie nicht die Tür des Privatkontors hinter sich geschlossen hatten. „Junger Herr,“ sagte der Buchhalter, „das geht nicht, der Mann ist ein Organisierter.“ — „Deswegen soll er ’raus“, erwiderte Diederich. Sötbier setzte auseinander, daß das nicht gehe, weil dann alle die Arbeit niederlegen würden. Diederich wollte es nicht begreifen. Waren denn alle organisiert? Nein. Nun also. Aber, erklärte Sötbier, sie hatten Furcht vor den Roten, sogar auf die alten Leute war kein Verlaß mehr.

„Ich schmeiß’ sie ’raus!“ rief Diederich. „Samt und sonders, mit Kind und Kegel!“

„Wenn wir dann nur andere kriegten“, sagte Sötbier und sah unter seinem grünen Augenschirm mit einem dünnen Lächeln dem jungen Herrn zu, der vor Zorn gegen die Möbel anrannte. Er schrie:

„Bin ich in meiner Fabrik der Herr oder nicht? Dann will ich doch sehen —“

Sötbier ließ ihn austoben, dann sagte er: „Herr Doktor brauchen dem Fischer gar nichts zu sagen, er geht uns nicht fort, er weiß ja, daß wir davon zu viele Scherereien hätten.“

Diederich bäumte sich nochmals auf.

„So. Ich brauch’ ihn also nicht zu bitten, daß er die Gnade hat und bleibt? Der Herr Napoleon! Ich brauch’ ihn nicht für Sonntag zum Mittagessen einzuladen? Es wäre auch zuviel Ehre für mich!“ [ 126 ] Der Kopf war ihm rot angeschwollen, er fand das Zimmer zu eng und riß die Tür auf. Der Maschinenmeister ging eben vorbei. Diederich sah ihm nach, der Haß gab ihm deutlichere Sinneseindrücke als sonst, er bemerkte gleichzeitig die krummen, mageren Beine des Menschen, seine knochigen Schultern mit den Armen, die vornüberhingen — und nun der Maschinenmeister mit den Leuten sprach, sah er seine starken Kiefern arbeiten unter dem dünnen schwarzen Bart. Wie Diederich dies Mundwerk haßte, und diese knotigen Hände! Der schwarze Kerl war längst vorüber, und seine Ausdünstung roch Diederich noch immer.

„Sehn Sie mal, Sötbier, die Vorderflossen hängen ihm bis an den Boden. Gleich wird er auf allen vieren laufen und Nüsse fressen. Dem Affen werden wir ein Bein stellen, verlassen Sie sich darauf! Napoleon! So ein Name ist allein schon eine Provokation. Aber er soll sich zusammennehmen, denn so viel weiß ich, daß einer von uns beiden —“ Diederich rollte die Augen: „— auf dem Platz bleiben wird.“
 

Erhobenen Hauptes verließ er die Fabrik. Im schwarzen Rock machte er sich auf, um den wichtigsten Herren der Stadt die Aufmerksamkeit seines Besuches zu erweisen. Von der Meisestraße konnte er, um zum Bürgermeister Doktor Scheffelweis in die Schweinichenstraße zu gelangen, einfach der Wuchererstraße folgen, die jetzt Kaiser-Wilhelm-Straße hieß. Er wollte es auch; im entscheidenden Augenblick aber, wie auf eine Verabredung, die er vor sich selbst geheimgehalten hätte, bog er dennoch in die Fleischhauergrube ein. Die zwei Stufen vor dem Hause des alten Herrn Buck waren abgewetzt von den Füßen der ganzen Stadt und von den Vorgängern dieser [ 127 ]Füße. Der Klingelzug an der gelben Glastür bewirkte drinnen ein langes Rasseln im Leeren. Dann ging dort hinten eine Tür auf, und die alte Magd schlich über die Diele. Aber sie war noch längst nicht angelangt, da trat vorn der Hausherr aus seinem Bureau und öffnete selbst. Er zog Diederich, der sich eifrig verbeugte, bei der Hand herein.

„Mein lieber Heßling! Ich habe Sie erwartet, man hatte mir Ihre Ankunft berichtet. Willkommen denn in Netzig, mein Herr Doktor.“

Sofort hatte Diederich Tränen in den Augen und stammelte:

„Sie sind zu gütig, Herr Buck. Natürlich habe ich zuerst und vor allem Ihnen, Herr Buck, meine Aufwartung machen wollen und Ihnen versichern, daß ich immer ganz — daß ich immer ganz — zu Ihren Diensten stehe“, schloß er, freudig wie ein guter Schüler. Der alte Herr Buck hielt ihn noch fest, mit seiner Hand, die warm und dennoch leicht und weich war.

„Dienste —“ er schob Diederich selbst den Sessel zurecht, „die wollen Sie doch natürlich nicht mir leisten, sondern Ihren Mitbürgern — die es Ihnen danken werden. Zum Stadtverordneten werden Ihre Mitbürger Sie in kurzem wählen, das glaube ich Ihnen versprechen zu können, denn damit belohnen sie eine verdiente Familie. Und dann“ — der alte Buck beschrieb eine Gebärde feierlicher Freigebigkeit „— verlasse ich mich auf Sie, daß Sie es uns recht bald ermöglichen werden, Sie im Magistrat zu begrüßen.“

Diederich verbeugte sich, beglückt lächelnd, als werde er schon begrüßt. „Die Gesinnung unserer Stadt,“ fuhr Herr Buck fort, „ich sage nicht, daß sie in allen Teilen gut [ 128 ]ist —“ Er versenkte seinen weißen Knebelbart in die seidene Halsbinde. „Aber noch ist Raum“ — der Bart tauchte wieder auf — „und will’s Gott noch lange, für wahrhaft liberale Männer.“

Diederich beteuerte: „Ich bin selbstverständlich durchaus liberal.“

Darauf strich der alte Buck über die Papiere auf seinem Schreibtisch. „Ihr seliger Vater hat mir hier oft gegenüber gesessen, und besonders häufig damals, als er die Papiermühle errichtete. Dabei konnte ich ihm zu meiner großen Freude förderlich sein. Es handelte sich um den Bach, der jetzt durch Ihren Hof fließt.“

Diederich sagte mit tiefer Stimme: „Wie oft, Herr Buck, hat mein Vater mir erzählt, daß er den Bach, ohne den wir gar nicht existieren könnten, nur Ihnen verdankt.“

„Nur mir, dürfen Sie nicht sagen, sondern den gerechten Zuständen unseres Gemeinwesens, an denen aber —“ der alte Herr Buck erhob seinen weißen Zeigefinger, er sah Diederich tief an, „gewisse Leute und eine gewisse Partei manches ändern würden, sobald sie könnten.“ Stärker und mit Pathos: „Der Feind steht vor dem Tore, es heißt zusammenhalten.“

Er ließ eine Pause verstreichen und sagte in leichterem Ton, sogar mit einem kleinen Schmunzeln: „Sind Sie nicht, mein werter Herr Doktor, in einer ähnlichen Lage, wie damals Ihr Vater? Sie wollen sich vergrößern? Sie haben Pläne?“

„Allerdings.“ Und Diederich setzte eifrig auseinander, was alles geschehen müsse. Der Alte hörte ihm aufmerksam zu, er nickte, nahm eine Prise … Endlich sagte er: „Ich sehe so viel, daß der Umbau Ihnen nicht nur große Kosten, sondern unter Umständen auch Schwierigkeiten [ 129 ]mit der städtischen Baupolizei verursachen wird — mit der ich übrigens im Magistrat zu tun habe. Nun überzeugen Sie sich, mein lieber Heßling, was hier auf meinem Schreibtisch liegt.“

Da erkannte Diederich einen genauen Aufriß seines Grundstückes, samt dem dahinter gelegenen. Sein verblüfftes Gesicht bewirkte bei dem alten Buck ein Lächeln der Genugtuung. „Ich kann wohl dafür sorgen,“ sagte er, „daß keine erschwerenden Umstände eintreten.“ Und auf Diederichs Danksagungen: „Wir dienen dem großen Ganzen, wenn wir jedem unserer Freunde vorwärtshelfen. Denn die Freunde einer Volkspartei sind alle, außer den Tyrannen.“

Nach diesen Worten lehnte der alte Buck sich tiefer in den Sessel und faltete die Hände. Seine Miene hatte sich entspannt, er wiegte den Kopf wie ein Großvater. „Als Kind hatten Sie so schöne blonde Locken“, sagte er.

Diederich begriff, daß der offizielle Teil des Gespräches beendet sei. „Ich weiß noch,“ erlaubte er sich zu sagen, „wie ich als kleiner Junge hier ins Haus kam, wenn ich mit Ihrem Herrn Sohn Wolfgang Soldaten spielte.“

„Ja, ja. Und jetzt spielt er wieder Soldat.“

„Oh! Er ist sehr beliebt bei den Offizieren. Er hat es mir selbst gesagt.“

„Ich wünschte, mein lieber Heßling, er hätte mehr von Ihrer praktischen Veranlagung … Nun, er wird ruhiger werden, wenn ich ihn erst verheiratet habe.“

„Ich glaube,“ sagte Diederich, „daß Ihr Herr Sohn etwas Geniales hat. Daher ist er mit nichts zufrieden, er weiß nicht, ob er General werden soll oder sonst ein großer Mann.“

„Inzwischen macht er leider dumme Streiche.“ Der [ 130 ]Alte sah aus dem Fenster. Diederich wagte seine Neugier nicht zu zeigen.

„Dumme Streiche? Das kann ich gar nicht glauben, denn mir hat er immer imponiert, gerade durch seine Intelligenz. Schon früher, seine Aufsätze. Und was er mir neulich über unseren Kaiser gesagt hat, daß er eigentlich gern der erste Arbeiterführer wäre…“

„Davor behüte Gott die Arbeiter.“

„Wieso?“ Diederich war tieferstaunt.

„Weil es ihnen schlecht bekommen würde. Uns anderen ist es auch nicht gut bekommen.“

„Aber wir haben doch, dank den Hohenzollern, das einige Deutsche Reich.“

„Wir haben es nicht“, sagte der alte Buck und stand ungewöhnlich rasch vom Stuhl auf. „Denn wir müßten, um unsere Einigkeit zu beweisen, einem eigenen Willen folgen können; und können wir’s? Ihr wähnt euch einig, weil die Pest der Knechtschaft sich verallgemeinert! Das hat Herwegh, ein Überlebender wie ich, im Frühjahr Einundsiebzig den Siegestrunkenen zugerufen. Was würde er heute sagen!“

Diederich konnte, vor dieser Stimme aus dem Jenseits, nur stammeln: „Ach ja, Sie sind ein Achtundvierziger.“

„Mein lieber junger Freund, Sie wollen sagen, ein Narr und ein Besiegter. Ja! Wir sind besiegt worden, weil wir närrisch genug waren, an dieses Volk zu glauben. Wir glaubten, es würde alles das selbst vollbringen, was es jetzt für den Preis der Unfreiheit von seinen Herren entgegennimmt. Wir dachten es mächtig, reich, voll Einsicht in seine eigenen Angelegenheiten und der Zukunft ergeben. Wir sahen nicht, daß es, ohne politische Bildung, deren es weniger hat als alle anderen, bestimmt sei, nach [ 131 ]seinem Aufschwung den Mächten der Vergangenheit anheimzufallen. Schon zu unserer Zeit gab es allzu viele, die unbekümmert um das Ganze, ihren Privatinteressen nachjagten und zufrieden waren, wenn sie in irgendeiner Gnadensonne sich wärmend, den unedlen Bedürfnissen eines anspruchsvollen Genußlebens genügen konnten. Seitdem sind sie Legion geworden, denn die Sorge um das öffentliche Wohl ist ihnen abgenommen. Zur Großmacht haben eure Herren euch schon gemacht, und indes ihr Geld verdient, wie ihr könnt, und es ausgebt, wie ihr mögt, werden sie euch — oder vielmehr sich — auch noch die Flotte bauen, die wir damals uns selbst gebaut haben würden. Unser Dichter damals wußte, was ihr erst jetzt lernen sollt: Und in den Furchen, die Kolumb gezogen, geht Deutschlands Zukunft auf!“

„Bismarck hat eben wirklich etwas getan“, sagte Diederich, leise triumphierend.

„Das ist es gerade, daß er es hat tun dürfen! Und dabei hat er alles nur faktisch getan, formell aber im Namen seines Herrn. Da waren wir Bürger von achtundvierzig ehrlicher, das darf ich sagen, denn ich habe damals selbst bezahlt, was ich gewagt hatte.“

„Ich weiß wohl, Sie sind zum Tode verurteilt worden“, sagte Diederich, wieder eingeschüchtert.

„Ich bin verurteilt worden, weil ich die Souveränität der Nationalversammlung gegen eine Partikularmacht verteidigte und das Volk, das sich in Notwehr befand, zum Aufstand führte. So war in unseren Herzen die deutsche Einheit: sie war eine Gewissenspflicht, die eigene Schuld jedes einzelnen, für die er einstand. Nein! Wir huldigten keinem sogenannten Schöpfer der deutschen Einheit. Als ich damals, besiegt und verraten, hier oben [ 132 ]im Hause mit meinen letzten Freunden die Soldaten des Königs erwartete, da war ich, groß oder gering, ein Mensch, der selbst am Ideal schuf: einer aus vielen, aber ein Mensch. Wo sind sie heute?“

Der Alte hielt an und machte ein Gesicht, als lauschte er. Diederich war es schwül. Er fühlte, daß er zu dem allen nicht länger schweigen dürfe. Er sagte: „Das deutsche Volk ist eben, Gott sei Dank, nicht mehr das Volk der Denker und Dichter, es strebt modernen und praktischen Zielen zu.“ Der Alte kehrte aus seinen Gedanken zurück, er deutete nach der Zimmerdecke.

„Damals war die ganze Stadt bei mir zu Hause. Jetzt ist es so einsam wie nie, zuletzt ging noch Wolfgang fort. Ich würde alles dahingeben, aber, junger Mann, wir sollen Respekt haben vor unserer Vergangenheit — auch wenn wir besiegt worden sind.“

„Zweifellos“, sagte Diederich. „Und dann sind Sie immer noch der mächtigste Mann in der Stadt. Die Stadt, sagt man immer, gehört dem Herrn Buck.“

„Das will ich aber gar nicht, ich will, daß sie sich selbst gehört.“ Er atmete tief aus. „Das ist eine weitläufige Sache, Sie werden sie allmählich kennenlernen, wenn Sie Einblick in unsere Verwaltung bekommen. Wir werden nämlich jeden Tag heftiger bedrängt von der Regierung und ihren junkerlichen Auftraggebern. Heute will man uns zwingen, den Gutsbesitzern, die uns keine Steuern zahlen, unser Licht zu geben, morgen werden wir ihnen Straßen bauen müssen. Zuletzt geht es um unsere Selbstverwaltung. Sie werden sehen, wir leben in einer belagerten Stadt.“

Diedrich lächelte überlegen. „So schlimm kann es wohl nicht sein, denn unser Kaiser ist doch eine so moderne Persönlichkeit.“ [ 133 ]


„Nun ja“, sagte der alte Buck. Er erhob sich, wiegte den Kopf — und dann zog er es vor, zu schweigen. Er reichte Diederich die Hand.

„Mein lieber Doktor, Ihre Freundschaft wird mir gerade so wertvoll sein, als die Ihres Vaters mir war. Nach unserer Unterredung habe ich die Hoffnung, daß wir in allem einig gehen werden.“

Unter dem warmen blauen Blick des Alten schlug Diederich sich auf die Brust. „Ich bin ein durchaus liberaler Mann!“

„Vor allem warne ich Sie vor dem Regierungspräsidenten von Wulckow. Er ist der Feind, der uns hier in die Stadt gesetzt worden ist. Der Magistrat unterhält nur die unumgänglichen Beziehungen zum Präsidenten. Ich selbst habe die Ehre, von dem Herrn nicht gegrüßt zu werden.“

„Oh!“ machte Diederich, ehrlich erschüttert.

Der alte Buck öffnete ihm schon die Tür, schien aber noch etwas zu überlegen. „Warten Sie!“ Er trat eilig zu seiner Bibliothek, bückte sich und tauchte aus einer staubigen Tiefe mit einem kleinen, fast quadratischen Buch auf. Er steckte es Diederich rasch zu, verstohlenen Glanz in seinem Gesicht, das errötet war. „Da, nehmen Sie! Es sind meine ‚Sturmglocken‘! Man war auch Dichter — damals.“ Und er schob Diederich sanft hinaus.
 

Die Fleischhauergrube stieg beträchtlich an, aber Diederich schnaufte nicht nur deshalb. Nachdem er zuerst nur eine gewisse Betäubung empfunden hatte, stellte sich allmählich das Gefühl heraus, daß er sich habe verblüffen lassen. „So ein alter Schwätzer ist doch bloß noch eine Vogelscheuche, und mir imponiert er!“ Unbestimmt gedachte er der Kinderzeit, als ihm der alte Herr Buck, [ 134 ]der zum Tode verurteilt worden war, ebensoviel Hochachtung und ein ähnliches Grausen einflößte wie der Polizist an der Ecke oder das Burggespenst. „Werd’ ich denn ewig so weich bleiben? Ein anderer hätte sich nicht so behandeln lassen!“ Auch konnte es peinliche Folgen haben, daß er zu so vielen kompromittierenden Reden geschwiegen oder nur matt widersprochen hatte. Er legte sich energische Antworten zurecht, für das nächste Mal. „Das Ganze war eine Falle! Er hat mich einfangen und unschädlich machen wollen … Aber er soll sehen!“ Diederich ballte die Faust in der Tasche, indes er stramm durch die Kaiser-Wilhelm-Straße ging. „Vorläufig muß man sich noch mit ihm verhalten, aber wehe, wenn ich der Stärkere bin!“

Das Haus des Bürgermeisters war mit Ölfarbe neu gestrichen, und die Spiegelscheiben glänzten wie je. Ein nettes Stubenmädchen empfing ihn. Über eine Treppe mit einem freundlichen Knaben aus Biskuit, der eine Lampe trug, und durch ein Vorzimmer, worin fast vor jedem Möbel ein kleiner Teppich lag, ward Diederich in das Eßzimmer geführt. Es war aus hellem Holz mit appetitlichen Bildern, zwischen denen der Bürgermeister und noch ein Herr beim zweiten Frühstück saßen. Doktor Scheffelweis reichte Diederich seine weißliche Hand hin und musterte ihn dabei über den Klemmer weg. Trotzdem wußte man nie genau, ob er einen ansah, so unbestimmt war der Blick seiner Augen, die farblos schienen wie das Gesicht und die seitwärts fliehenden, dünnen Bartkoteletts. Der Bürgermeister setzte mehrmals zum Sprechen an, bis er endlich etwas fand, das man auf alle Fälle sagen konnte. „Schöne Schmisse“, sagte er; und zu dem anderen Herrn: „Finden Sie nicht?“ [ 135 ] Der andere Herr legte Diederich zunächst große Zurückhaltung auf, denn er sah stark jüdisch aus. Aber der Bürgermeister stellte vor: „Herr Assessor Jadassohn, von der Staatsanwaltschaft“ — was dann allerdings eine vollwertige Begrüßung nötig machte.

„Setzen Sie sich nur gleich,“ sagte der Bürgermeister, „wir fangen gerade an.“ Er schenkte Diederich Porter ein und legte ihm Lachsschinken vor. „Meine Frau und meine Schwiegermutter sind ausgegangen, die Kinder in der Schule, dies ist die Stunde des Junggesellen, prost!“

Der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft hatte vorläufig nur für das Stubenmädchen Augen. Während sie neben ihm am Tisch zu tun hatte, war seine Hand verschwunden. Dann ging sie, und er wollte von öffentlichen Angelegenheiten beginnen, aber der Bürgermeister ließ sich nicht unterbrechen. „Die beiden Damen kommen vor dem Mittagessen nicht zurück, denn meine Schwiegermutter ist beim Zahnarzt. Ich kenne das, es kostet Mühe mit ihr, und inzwischen gehört uns das Haus.“ Er holte einen Likör aus dem Büfett, rühmte ihn, ließ sich seine Güte von den Gästen bestätigen und fuhr fort, eintönig und vom Kauen unterbrochen, das Idyll seiner Vormittage zu preisen. Allmählich ward, in allem Glück, seine Miene immer besorgter, er fühlte wohl, das Gespräch könne so nicht weitergehen; und nachdem eine Minute lang alle geschwiegen hatten, entschloß er sich.

„Ich darf annehmen, Herr Doktor Heßling —: mein Haus liegt ja nicht in nächster Nachbarschaft des Ihren, und so würde ich es durchaus begreiflich finden, wenn Sie vor mir einige andere Herren aufgesucht hätten.“

Diederich errötete schon für die Lüge, die er noch nicht ausgesprochen hatte. „Es würde herauskommen“, dachte [ 136 ]er noch rechtzeitig, und er sagte: „Tatsächlich habe ich mir erlaubt —. Das heißt, natürlich war mein erster Weg zu Ihnen, Herr Bürgermeister. Nur im Andenken an meinen Vater, der eine so große Verehrung für den alten Herrn Buck hatte —“

„Begreiflich, durchaus begreiflich.“ Der Bürgermeister nickte mit Nachdruck. „Herr Buck ist der älteste unter unseren verdienten Bürgern und übt daher einen zweifellos legitimen Einfluß aus.“

„Vorläufig noch!“ sagte mit unerwartet scharfer Stimme der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft und sah Diederich herausfordernd an. Der Bürgermeister hatte sich über seinen Käse gebeugt, Diederich fand sich schutzlos, er blinzelte. Da der Blick des Herrn durchaus ein Bekenntnis verlangte, brachte er etwas hervor von „eingefleischtem Respekt“ und führte sogar Kindheitserinnerungen an, die es entschuldigen sollten, daß er zuerst bei Herrn Buck gewesen war. Dabei betrachtete er schreckerfüllt die ungeheuren, roten und weit abstehenden Ohren des Herrn von der Staatsanwaltschaft. Dieser ließ Diederich fertig stammeln, wie einen Angeklagten, der sich verfing; endlich versetzte er schneidend:

„Der Respekt ist in gewissen Fällen dazu da, daß man sich ihn abgewöhnt.“

Diederich stutzte; dann entschloß er sich zu einem verständnisvollen Gelächter. Der Bürgermeister sagte mit blassem Lächeln und einer versöhnlichen Geste:

„Herr Assessor Doktor Jadassohn ist nun einmal gern geistreich, — was ich persönlich ganz besonders an ihm schätze. In meiner Stellung freilich bin ich genötigt, die Dinge objektiv und voraussetzungslos zu betrachten. Und da muß ich denn sagen: einerseits…“ [ 137 ]


„Kommen wir gleich zum Andererseits!“ verlangte Assessor Jadassohn. „Für mich als Vertreter einer staatlichen Behörde wie als überzeugten Anhänger der bestehenden Ordnung sind dieser Herr Buck und sein Genosse, der Reichstagsabgeordnete Kühlemann, nach ihrer Vergangenheit und Gesinnung einfach Umstürzler, und damit fertig. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube, ich halte das nicht für deutsch. Volksküchen gründen, meinetwegen; aber das beste Futter für das Volk ist eine gute Gesinnung. Eine Idiotenanstalt mag auch ganz nützlich sein.“

„Aber nur eine kaisertreue!“ ergänzte Diederich. Der Bürgermeister machte beschwichtigende Zeichen. „Meine Herren!“ flehte er. „Meine Herren! Wenn wir uns denn aussprechen sollen, so ist es gewiß richtig, daß bei aller bürgerlichen Hochschätzung der genannten Herren andererseits doch —“

„Andererseits!“ wiederholte Jadassohn streng.

„— das tiefste Bedauern zurückbleibt über unsere leider so ungünstigen Beziehungen zu den Vertretern der Staatsregierung — wenn ich auch zu bedenken bitte, daß die ungewöhnliche Schärfe des Herrn Regierungspräsidenten von Wulckow gegenüber den städtischen Behörden —“

„Gegenüber schlecht gesinnten Körperschaften!“ warf Jadassohn ein. Diederich erlaubte sich: „Ich bin ein durchaus liberaler Mann, aber das muß ich sagen —“

„Eine Stadt,“ erklärte der Assessor, „die sich den berechtigten Wünschen der Regierung verschließt, darf allerdings nicht darüber erstaunen, daß ihr die kalte Schulter gezeigt wird.“

„Von Berlin nach Netzig“, versicherte Diederich, „könnte man in der halben Zeit fahren, wenn wir besser mit den Herren oben ständen.“ [ 138 ]


Der Bürgermeister ließ sie ihr Duett beenden, er war bleich und hielt hinter dem Klemmer die Lider gesenkt. Plötzlich sah er sie an mit einem dünnen Lächeln.

„Meine Herren, bemühen Sie sich nicht, ich weiß, daß es eine zeitgemäßere Gesinnung gibt als die von den städtischen Behörden bekundete. Glauben Sie, bitte, daß es nicht mein Verschulden war, wenn an Seine Majestät gelegentlich ihrer letzten Anwesenheit in der Provinz, während der vorjährigen Manöver, kein Huldigungstelegramm geschickt worden ist…“

„Die Weigerung des Magistrats war durchaus undeutsch“, stellte Jadassohn fest.

„Das nationale Banner muß hochgehalten werden“, verlangte Diederich. Der Bürgermeister erhob die Arme.

„Meine Herren, das weiß ich. Aber ich bin nur der Vorsitzende des Magistrats und muß leider seine Beschlüsse ausführen. Ändern Sie die Verhältnisse! Herr Doktor Jadassohn erinnert sich noch an unseren Streit mit der Regierung wegen des sozialdemokratischen Lehrers Rettich. Ich konnte den Mann nicht maßregeln. Herrn von Wulckow ist bekannt,“ — der Bürgermeister kniff ein Auge zu — „daß ich es sonst getan haben würde.“

Man schwieg eine Weile und betrachtete einander. Jadassohn blies durch die Nase, als genügte ihm das Gehörte. Aber Diederich konnte nicht länger an sich halten. „Die Vorfrucht der Sozialdemokratie ist der Liberalismus“! rief er. „Solche Leute wie Buck, Kühlemann und Eugen Richter machen unsere Arbeiter frech. Mein Betrieb legt mir die schwersten Opfer an Arbeit und Verantwortung auf, und dann hab’ ich noch Konflikte mit meinen Leuten. Und warum? Weil wir nicht einig sind gegen die rote Gefahr und es gewisse Arbeitgeber gibt, [ 139 ]die im sozialistischen Fahrwasser schwimmen, wie zum Beispiel der Schwiegersohn des Herrn Buck. Was seine Fabrik einbringt, daran beteiligt der Herr Lauer seine Arbeiter. Das ist unmoralisch!“ Hier blitzte Diederich. „Denn es untergräbt die Ordnung, und ich stehe auf dem Standpunkt, in dieser harten Zeit haben wir Ordnung nötiger als je, und darum brauchen wir ein festes Regiment, wie unser herrlicher junger Kaiser es führt. Ich erkläre, daß ich in allem fest zu Seiner Majestät stehe…“ Hier machten die beiden anderen Herren eine Verbeugung, die Diederich entgegennahm, indes er weiterblitzte. Im Gegensatz zu dem demokratischen Mischmasch, an den die absterbende Generation noch glaube, sei der Kaiser der Vertreter der Jugend, die persönlichste Persönlichkeit, von erfreulicher Impulsivität und ein höchst origineller Denker. „Einer soll Herr sein! Auf allen Gebieten!“ Diederich legte das vollständige Bekenntnis einer scharfen und schneidigen Gesinnung ab und erklärte, daß mit dem alten freisinnigen Schlendrian auch in Netzig von Grund aus aufgeräumt werden müsse.

„Jetzt kommt eine neue Zeit!“

Jadassohn und der Bürgermeister hörten still zu, bis er alles herausgesagt hatte; Jadassohns Ohren wurden dabei noch größer. Dann krähte er: „Auch in Netzig gibt es kaisertreue Deutsche!“ Und Diederich noch lauter: „Die aber, die es nicht sind, werden wir uns einmal näher ansehen. Es wird sich zeigen, ob gewissen Familien die Stellung, die sie einnehmen, noch zukommt. Vom alten Buck zu schweigen: wer sind denn seine Leute? Die Söhne verbauert oder verbummelt, ein Schwiegersohn, der Sozialist ist, und die Tochter soll ja —“

Man sah einander an. Der Bürgermeister kicherte und [ 140 ]rötete sich blaß. Vor Vergnügen platzte er aus: „Und die Herren wissen noch gar nicht, daß der Bruder des Herrn Buck pleite ist!“

Man äußerte lärmende Genugtuung. Der mit den fünf eleganten Töchtern! Der Vorsitzende der „Harmonie“! Aber zu essen, das wußte Diederich, bekamen sie aus der Volksküche. Daraufhin schenkte der Bürgermeister nochmals Schnäpse ein und reichte Zigarren. Er zweifelte plötzlich nicht mehr, daß ein Umschwung bevorstehe. „In anderthalb Jahren sind die Neuwahlen zum Reichstag. Bis dahin werden die Herren arbeiten müssen.“

Diederich schlug vor: „Betrachten wir drei uns schon jetzt als das engere Wahlkomitee!“

Jadassohn erklärte es für die erste Notwendigkeit, Fühlung zu nehmen mit dem Herrn Regierungspräsidenten von Wulckow. „Streng vertraulich“, setzte der Bürgermeister hinzu und zwinkerte. Diederich bedauerte, daß die „Netziger Zeitung“, das größte Organ der Stadt, sich im freisinnigen Fahrwasser bewege. „So ein Judenblatt!“ sagte Jadassohn. Wohingegen das regierungstreue Kreisblatt in der Stadt fast ohne Einfluß sei. Aber der alte Klüsing in Gausenfeld lieferte das Papier für beide Blätter. Es schien Diederich nicht unmöglich, durch ihn, der in der „Netziger Zeitung“ Geld hatte, ihre Haltung zu beeinflussen. Er mußte Angst bekommen, sonst das Kreisblatt zu verlieren. „Denn es gibt ja noch eine Papierfabrik in Netzig“, sagte der Bürgermeister und schmunzelte. Da trat das Zimmermädchen ein und verkündete, sie müsse nun den Tisch zum Mittagessen decken; die gnädige Frau werde gleich zurück sein — „und auch die Frau Hauptmann“, setzte sie hinzu. Bei der Nennung dieses Titels erhob der Bürgermeister sich sofort. Wie [ 141 ]er seine Gäste hinausgeleitete, hielt er den Kopf gesenkt und war, trotz der genossenen Schnäpse, ganz milchfarben. Auf der Treppe zog er Diederich am Ärmel. Jadassohn war zurückgeblieben, und man hörte das Mädchen leise kreischen. An der Haustür läutete es schon.

„Mein lieber Herr Doktor,“ wisperte der Bürgermeister, „Sie haben mich doch nicht mißverstanden. Bei alledem habe ich natürlich einzig das Interesse der Stadt im Auge. Mir liegt es selbstverständlich ganz fern, irgend etwas zu unternehmen, worin ich mich nicht einig weiß mit den Körperschaften, an deren Spitze zu stehen ich die Ehre habe.“

Er blinzelte eindringlich. Bevor Diederich sich besonnen hatte, betraten die Damen das Haus, und der Bürgermeister ließ Diederichs Ärmel los, um ihnen entgegenzueilen. Seine Frau, verhutzelt und mit Sorgenfalten, hatte kaum Zeit, die Herren zu begrüßen; sie mußte die Kinder trennen, die einander prügelten. Ihre Mutter aber, einen Kopf höher und noch jugendlich, musterte streng die geröteten Gesichter der Frühstücksgäste. Dann schritt sie junonisch auf den Bürgermeister zu, den man kleiner werden sah … Assessor Dr. Jadassohn hatte sich schon von dannen gemacht, Diederich vollführte formelle Verbeugungen, die unerwidert blieben, und eilte hinterdrein. Ihm war aber beklommen, er sah unruhig auf der Straße umher, hörte nicht, was Jadassohn sagte, und plötzlich kehrte er um. Er mußte mehrmals und heftig läuten, denn drinnen war großer Lärm. Die Herrschaften standen noch am Fuße der Treppe, auf der die Kinder sich schreiend umherstießen, und sie debattierten. Die Frau Bürgermeister wünschte, daß ihr Gatte beim Schuldirektor etwas gegen einen Oberlehrer unternehme, der ihren Sohn schlecht behandelte. Dagegen forderte die Frau Hauptmann [ 142 ]von ihrem Schwiegersohn, er solle den Oberlehrer zum Professor ernennen, denn seine Frau habe den größten Einfluß im Vorstand der Bethlehemstiftung für gefährdete Mädchen. Der Bürgermeister beschwor sie abwechselnd mit den Händen. Endlich konnte er ein Wort anbringen.

„Einerseits…“, sagte er.

Aber da hatte Diederich ihn am Ärmel ergriffen. Nach vielen Entschuldigungen in der Richtung der Damen zog er ihn beiseite, und er flüsterte bebend: „Verehrter Herr Bürgermeister, es liegt mir daran, Mißverständnissen vorzubeugen. Ich darf daher wiederholen, daß ich ein durchaus liberaler Mann bin.“

Doktor Scheffelweis versicherte flüchtig, daß er hiervon gerade so überzeugt sei wie von seiner eigenen, gut liberalen Gesinnung. Schon ward er abgerufen, und Diederich verließ, ein wenig erleichtert, das Haus. Jadassohn erwartete ihn grinsend.

„Sie haben wohl Angst gehabt? Lassen Sie nur! Mit unserem Stadtoberhaupt kompromittiert sich niemand, er ist immer, wie der liebe Gott, mit den stärksten Bataillonen. Heute wollte ich nur feststellen, wie weit er sich schon mit Herrn von Wulckow eingelassen hat. Es steht nicht übel, wir können uns ein Stück vorwagen.“

„Vergessen Sie, bitte, nicht,“ sagte Diederich, mit Zurückhaltung, „daß ich in der Netziger Bürgerschaft zu Hause und natürlich auch liberal bin.“

Jadassohn sah ihn von der Seite an. „Neuteutonia?“ fragte er. Und als Diederich sich erstaunt umwandte: „Wie geht es denn meinem alten Freund Wiebel?“

„Sie kennen ihn? Er war mein Leibbursch!“

„Kennen! Ich habe mit ihm gehangen.“

Diederich ergriff die Hand, die Jadassohn hinhielt, sie [ 143 ]schüttelten einander kraftvoll. „Na dann!“ „Na also!“ Und Arm in Arm gingen sie in den Ratskeller, Mittag essen.
 

Dort war es einsam und dämmerig, hinten ward für sie das Gas angezündet, und bis die Suppe kam, machten sie alte Kommilitonen ausfindig. Der dicke Delitzsch! Diederich berichtete mit der Genauigkeit eines Augenzeugen über seinen tragischen Tod. Das erste Glas Rauenthaler weihten sie still seinem Andenken. Es zeigte sich, daß auch Jadassohn die Februarkrawalle mitgemacht und damals die Macht verehren gelernt hatte, wie Diederich. „Seine Majestät hat einen Mut bewiesen,“ sagte der Assessor, „daß einem schwindlig werden konnte. Mehrmals habe ich, weiß Gott, geglaubt —.“ Er stockte, sie sahen schaudernd einander in die Augen. Um über die entsetzliche Vorstellung hinwegzukommen, erhoben sie die Gläser. „Gestatte mir“, sagte Jadassohn. „Ziehe gleich mit“, erwiderte Diederich. Und Jadassohn: „Werte Lieben mit eingeschlossen.“ Und Diederich: „Werde zu Hause davon zu rühmen wissen.“

Dann ließ sich Jadassohn, obwohl sein Essen kalt ward, auf eine ausführliche Würdigung des kaiserlichen Charakters ein. Die Philister, Nörgler und Juden mochten an ihm aussetzen was sie wollten, alles in allem war unser herrlicher junger Kaiser die persönlichste Persönlichkeit, von erfreulicher Impulsivität und ein höchst origineller Denker. Diederich glaubte dies auch schon festgestellt zu haben und nickte befriedigt. Er sagte sich, daß das Äußere eines Menschen zuweilen trüge, und daß die deutsche Gesinnung nicht notwendig von der Größe der Ohren abhänge. Sie leerten ihre Gläser auf den glücklichen Ausgang des Kampfes für Thron und Altar, gegen den Umsturz in jeder Form und Verkleidung. [ 144 ] So gelangten sie wieder zu den Zuständen in Netzig. Sie waren sich einig darin, daß der neue nationale Geist, für den es die Stadt zu erobern galt, kein anderes Programm brauche als den Namen Seiner Majestät. Die politischen Parteien waren alter Trödel, wie Seine Majestät selbst gesagt hatte. „Ich kenne nur zwei Parteien, die für mich und die wider mich“, hatte er gesagt, und so war es. In Netzig überwog leider noch die Partei, die gegen ihn war, aber das sollte sich ändern, und zwar — dies war Diederich klar — vermittels des Kriegervereins. Jadassohn, der ihm nicht angehörte, übernahm es gleichwohl, Diederich mit den leitenden Persönlichkeiten bekannt zu machen. Da war vor allem Pastor Zillich, ein Korpsbruder von Jadassohn, ein echt deutscher Mann! Gleich nachher wollten sie ihn besuchen. Sie tranken auf sein Wohl. Auch auf seinen Hauptmann trank Diederich, den Hauptmann, der aus einem strengen Vorgesetzten sein bester Freund geworden war. „Das Dienstjahr ist doch das Jahr, das ich aus meinem Leben am wenigsten missen möchte.“ Unvermittelt und schon ziemlich gerötet, rief er aus:

„Und solche erhebenden Erinnerungen möchten diese Demokraten uns verekeln!“

Der alte Buck! Diederich konnte sich plötzlich nicht fassen vor Wut, er stammelte: „Am Dienen will solch ein Mensch uns hindern, er sagt, wir sind Knechte! Weil er mal Revolution gemacht hat —“

„Das ist ja schon nicht mehr wahr“, sagte Jadassohn.

„Darum sollen wir uns wohl alle zum Tode verurteilen lassen? Hätten sie ihn wenigstens geköpft!… Die Hohenzollern sollen uns schlecht bekommen sein!“

„Ihm sicher“, sagte Jadassohn und tat einen großen Zug.

„Aber ich stelle fest —“ Diederich rollte die Augen —, [ 145 ]„daß ich all seinen lästerlichen Unfug nur angehört habe, um mich darüber zu unterrichten, wes Geistes Kind er ist. Ich nehme Sie zum Zeugen, Herr Assessor! Wenn der alte Intrigant jemals behaupten sollte, daß ich sein Freund bin und seine infamen Majestätsbeleidigungen gebilligt habe, dann nehme ich Sie zum Zeugen, daß ich gleich heute protestiert habe!“

Der Schweiß brach ihm aus, denn er dachte an die Sache mit der Baukommission und an den Schutz, den er bei ihr genießen sollte … Unvermittelt warf er ein Buch auf den Tisch, ein kleines, fast quadratisches Buch, und stieß ein Hohngelächter dabei aus.

„Dichten tut er auch!“

Jadassohn blätterte. „Turnerlieder. Aus der Gefangenschaft. Ein Hoch der Republik! und Am Weiher lag ein Jüngling, trübselig anzuschauen … Stimmt, so waren die. Sträflinge versorgen und an den Grundlagen rütteln. Sentimentaler Umsturz. Gesinnung verdächtig und Haltung schlapp. Da stehen wir, Gott sei Dank, anders da.“

„Das wollen wir hoffen“, sagte Diederich. „In der Verbindung haben wir Mannhaftigkeit und Idealismus gelernt, das genügt, da erübrigt sich das Dichten.“

„Fort mit euren Altarkerzen!“ deklamierte Jadassohn. „Das ist etwas für meinen Freund Zillich. Jetzt hat er sein Schläfchen hinter sich, wir können losgehen.“

Sie fanden den Pastor beim Kaffee. Er wollte Frau und Tochter sogleich hinausschicken, Jadassohn hielt die Hausfrau galant zurück und versuchte auch dem Fräulein die Hand zu küssen, aber sie wandte ihm den Rücken. Diederich, sehr aufgeheitert, bat die Damen dringend, zu bleiben, und ihm gelang es. Er erklärte ihnen, daß Netzig nach Berlin beträchtlich still wirke. „Die Damenwelt ist [ 146 ]auch noch zurück. Mein Ehrenwort, gnädiges Fräulein, Sie sind hier die erste, die ruhig Unter den Linden spazierengehen könnte, und kein Mensch würde merken, daß Sie aus Netzig sind.“ Darauf erfuhr er, daß sie wirklich einmal in Berlin gewesen war, und sogar bei Ronacher. Diederich zog hieraus Vorteil, er erinnerte sie an ein dort gehörtes Couplet, das er ihr aber nur ins Ohr sagen könne. „Unsre lieben süßen Dam’n, zeigen alles, was sie ham’n“ … Da sie einen dreisten Seitenblick warf, streifte er mit dem Bart ihren Hals. Sie sah ihn flehend an, worauf er ihr erst recht versicherte, daß sie ein „reizender Käfer“ sei. Sie flüchtete mit geschlossenen Augen zu ihrer Mutter, die alles überwacht hatte. Der Pastor war mit Jadassohn in ernstem Gespräch. Er klagte, daß der Kirchenbesuch in Netzig unerhört vernachlässigt werde.

„Am Sonntag Jubilate: verstehen Sie wohl, am Sonntag Jubilate habe ich vor dem Küster und drei alten Damen aus dem Jungfrauenstift predigen müssen. Die anderen hatten Influenza.“

Jadassohn sagte: „Bei der lauen, um nicht zu sagen, feindseligen Haltung, die die herrschende Partei den kirchlichen und religiösen Dingen gegenüber einnimmt, muß man sich über die drei alten Damen wundern. Warum besuchen sie nicht lieber die freigeistigen Vorträge des Doktors Heuteufel?“

Da schnellte der Pastor vom Stuhl. Sein Bart schien aufzuschäumen, so sehr schnob er, und sein Gehrock warf wilde Falten. „Herr Assessor!“ brachte er hervor. „Dieser Mensch ist mein Schwager, und die Rache ist mein! spricht der Herr. Aber obwohl dieser Mensch mein Schwager und meiner leiblichen Schwester Mann ist, kann ich den Herrn nur anflehen, ja, mit gerungenen Händen [ 147 ]anflehen, daß er von seinem Rachestrahl Gebrauch mache. Denn sonst würde er eines Tages genötigt sein, Pech und Schwefel auf ganz Netzig regnen zu lassen. Kaffee, verstehen Sie, Kaffee gibt Heuteufel den Leuten umsonst, damit sie kommen und ihre Seele von ihm fangen lassen. Und dann erzählt er ihnen, die Ehe sei kein Sakrament, sondern ein Vertrag — als ob ich mir einen Anzug bestelle.“ — Der Pastor lachte vor Erbitterung.

„Pfui“, sagte Diederich mit tiefer Stimme. Und indes Jadassohn den Pastor seines positiven Christentums versicherte, begann Diederich schon wieder, im Schutz eines Sessels, sich Käthchen handgreiflich zu nähern. „Fräulein Käthchen,“ sagte er dabei, „ich kann Ihnen auf das bestimmteste erklären, daß für mich die Ehe tatsächlich ein Sakrament ist.“ Käthchen erwiderte:

„Schämen Sie sich, Herr Doktor.“

Ihm ward heiß. „Machen Sie nicht solche Augen!“

Käthchen seufzte. „Sie sind schrecklich raffiniert. Wahrscheinlich sind Sie auch nicht besser als der Herr Assessor Jadassohn. Ihre Schwestern haben mir schon erzählt, was Sie in Berlin alles angestellt haben. Es sind doch meine besten Freundinnen.“

Dann werde man sich doch bald wiedersehen? — Ja, in der „Harmonie“. „Aber Sie brauchen nicht zu denken, daß ich Ihnen irgendwas glaube. Sie sind ja mit Guste Daimchen zusammen am Bahnhof angekommen.“

Was das beweise, fragte Diederich. Er protestiere gegen alle Folgerungen, die man aus dieser rein zufälligen Tatsache etwa ziehen wolle. Fräulein Daimchen sei übrigens verlobt.

„Ach die!“ machte Käthchen. „Die geniert das nicht, sie ist so gräßlich kokett.“ [ 148 ]


Auch die Frau Pastor bestätigte es. Noch heute habe sie Guste in Lackschuhen und lila Strümpfen gesehen. Das verspreche nichts Gutes. Käthchen verzog den Mund.

„Na und die Erbschaft —.“

Dieser Zweifel machte, daß Diederich bestürzt verstummte. Der Pastor hatte dem Assessor soeben die Notwendigkeit zugegeben, die Lage der christlichen Kirche in Netzig einmal näher mit den Herren zu erörtern und verlangte von seiner Frau den Mantel und den Hut. Auf der Treppe war es schon dunkel. Da die beiden anderen vorangingen, konnte Diederich noch einmal Käthchens Hals überfallen. Sie sagte ersterbend: „So mit dem Bart kitzeln tut keiner in Netzig“ — was ihm zuerst schmeichelte, gleich darauf aber gab es ihm peinliche Vermutungen ein. So ließ er Käthchen einfach los und verschwand. Jadassohn erwartete ihn unten, er sagte leise: „Nur Mut! Der Alte hat nichts gemerkt, und die Mutter tut so.“ Er zwinkerte aufdringlich.

An der Marienkirche vorüber wollten die drei Herren den Markt erreichen, der Pastor blieb aber stehen, mit einer Kopfbewegung deutete er hinter sich. „Die Herren wissen wohl, wie die Gasse heißt, links von der Kirche unter dem Bogen? Dies schwarze Loch von einer Gasse, oder vielmehr das gewisse Haus darin.“

„Klein-Berlin“, sagte Jadassohn, denn der Pastor ging nicht weiter.

„Klein-Berlin“, wiederholte er, schmerzlich lächelnd, und noch einmal mit der Gebärde heiligen Zornes, so daß mehrere Leute sich umsahen: „Klein-Berlin … Im Schatten meiner Kirche! Solch ein Haus! Und der Magistrat will mich nicht hören, er spottet meiner. Aber er spottet noch eines anderen, —“ damit setzte sich der Pastor wieder in Bewegung — „und der lässet seiner nicht spotten.“ [ 149 ]


Auch Jadassohn war der Meinung, daß er seiner nicht spotten lasse. Diederich aber sah, indes seine Begleiter sich ereiferten, vom Rathaus her Guste Daimchen nahen. Er neigte formvoll den Hut vor ihr, und sie lächelte schnippisch. Ihm fiel auf, daß Käthchen Zillich gerade so weißblond war und auch diese kleine, frech eingedrückte Nase hatte. Eigentlich war es gleich, ob die oder die. Guste freilich zeichnete sich durch eine handliche Breite aus. „Und die läßt sich nichts gefallen. Gleich hat man eine Ohrfeige.“ Er wandte sich um nach Guste: von hinten war sie außerordentlich rund und wackelte. In diesem Augenblick war es für Diederich entschieden: Die oder keine!

Die beiden anderen hatten sie nachträglich auch bemerkt.

„War das nicht das Töchterchen der Frau Oberinspektor Daimchen?“ fragte der Pastor; und er setzte hinzu: „Unsere Bethlehemstiftung für gefährdete Jungfrauen wartet noch immer auf die Zuwendungen der Guten. Ob Fräulein Daimchen zu den Guten gehört? Die Leute sagen, sie habe eine Million geerbt.“

Jadassohn beeilte sich, dies für weit übertrieben zu erklären. Diederich widersprach; er kenne die Verhältnisse, der verstorbene Onkel habe mit Zichorie noch viel mehr verdient, als man glaube. Er behauptete es so lange, bis der Assessor ihm verhieß, er werde durch das Gericht in Magdeburg die Wahrheit in Erfahrung bringen. Darauf schwieg Diederich, zufriedengestellt.

„Übrigens“, sagte Jadassohn, „fällt das Geld doch nur an die Bucks, will sagen an den Umsturz.“ Aber Diederich wollte auch hierüber besser unterrichtet sein. „Fräulein Daimchen und ich sind nämlich zusammen hier angekommen“, sagte er versuchsweise. — „Ach so“, machte Jadassohn. „Darf man etwa gratulieren?“ Diederich hob die [ 150 ]Achseln wie bei einer Taktlosigkeit. Jadassohn entschuldigte sich; er habe nur geglaubt, der junge Buck —.

„Wolfgang?“ fragte Diederich. „Mit dem war ich in Berlin täglich zusammen. Er lebt dort mit einer Schauspielerin.“

Der Pastor räusperte sich mißbilligend. Da man eben auf den Theaterplatz gelangte, sah er streng hinüber. Er versetzte:

„Klein-Berlin liegt wohl bei meiner Kirche, aber doch wenigstens in einem dunklen Winkel. Dieser Tempel der Sittenlosigkeit brüstet sich auf offenem Platz, und unsere Söhne und Töchter —“ er zeigte nach dem Bühneneingang, wo einige Mitglieder des Theaters standen — „streifen mit dem Ärmel an Buhldirnen!“

Diederich erklärte dies, mit bekümmerter Miene, für tief bedauerlich — während Jadassohn sich über die „Netziger Zeitung“ entrüstete, die frohlockt hatte, weil in den Stücken der letzten Saison vier uneheliche Kinder vorgekommen seien, und die das für einen Fortschritt hielt!
 

Inzwischen bogen sie in die Kaiser-Wilhelm-Straße und hatten verschiedene Herren zu grüßen, die eben das Haus der Loge betraten. Als sie die tief gezogenen Hüte wieder aufgesetzt hatten und vorüber waren, sagte Jadassohn:

„Man wird sich die Herrschaften merken müssen, die den freimaurerischen Unfug noch mitmachen. Seine Majestät mißbilligt ihn entschieden.“

„Von meinem Schwager Heuteufel wundert mich selbst das gefährlichste Sektenwesen nicht“, erklärte der Pastor.

„Nun, und der Herr Lauer?“ meinte Diederich. „Ein Mensch, der sich nicht entblödet, seine Arbeiter am Gewinn zu beteiligen? Dem ist alles zuzutrauen!“ [ 151 ]


„Das Unerhörteste“, behauptete Jadassohn, „ist doch, daß Herr Landgerichtsrat Fritzsche sich in dieser Judengesellschaft zeigt: ein königlicher Landgerichtsrat Arm in Arm mit dem Wucherer Cohn. Wie haißt Cohn“, machte Jadassohn und steckte den Daumen unter die Achsel.

Diederich sagte: „Da er ja mit der Frau Lauer —“ Er brach ab und erklärte, dann begreife er allerdings, daß diese Leute vor Gericht immer recht bekämen. „Sie halten zusammen und schmieden Ränke.“ Pastor Zillich murmelte sogar etwas von Orgien, die sie in dem Haus dort feiern sollten und bei denen schon unaussprechliche Dinge vorgekommen waren. Aber Jadassohn lächelte bedeutsam:

„Nun, glücklicherweise sieht ihnen Herr von Wulckow gerade in die Fenster hinein.“ Und Diederich nickte beifällig zu dem Gebäude der Regierung hinüber. Gleich daneben, vor dem Bezirkskommando, ging ein Wachtposten auf und ab. „Da lacht einem doch das Herz, wenn man das Gewehr so eines braven Burschen blinken sieht!“ rief Diederich aus. „Damit halten wir die Bande in Schach.“

Das Gewehr blinkte freilich nicht, denn es ward dunkel. Schon schoben sich Abteilungen heimkehrender Arbeiter durch das abendliche Gedränge. Jadassohn schlug einen Dämmerschoppen bei Klappsch vor, gleich um die Ecke. Dort war es gemütlich, zu dieser Stunde kam niemand hin. Auch war Klappsch ein Gutgesinnter, der dem Pastor, indes seine Tochter das Bier brachte, seinen heißen Dank aussprach für die segensreiche Arbeit, die er in der Bibelstunde an seinen Jungen vollbringe. Der Älteste hatte zwar doch wieder Zucker gestohlen, dafür aber hatte er nachts nicht schlafen können, sondern seine Sünde Gott so laut gebeichtet, daß Klappsch es hörte und ihn durchprügeln konnte. Von da kam das Gespräch auf die [ 152 ]Beamten der Regierung, die Klappsch mit Frühstück versorgte und von denen er berichten konnte, wie sie am Sonntag die Kirchzeit verbrachten. Jadassohn machte sich Notizen, und gleichzeitig verschwand seine Hand hinter Fräulein Klappsch. Diederich besprach mit Pastor Zillich die Gründung eines christlichen Arbeitervereins. Er verhieß: „Wer von meinen Leuten nicht ’rein will, fliegt!“ Diese Aussichten heiterten den Pastor auf; nachdem Fräulein Klappsch mehrmals Bier und Kognak gebracht hatte, befand er sich in demselben Zustand hoffnungsvoller Entschlossenheit, den seine beiden Gefährten im Laufe des Tages erreicht hatten.

„Mein Schwager Heuteufel“, rief er und schlug auf den Tisch, „soll so viel von der Affenverwandtschaft predigen, wie er will, ich krieg’ meine Kirche doch wieder voll!“

„Nicht nur Ihre“, beteuerte Diederich.

„Na, es gibt nun mal zu viele Kirchen in Netzig“, gestand der Pastor. Da sagte Jadassohn schneidend: „Zu wenige, Mann Gottes, zu wenige!“ Und er nahm Diederich zum Zeugen, wie in Berlin die Dinge sich entwickelt hatten. Auch dort standen die Kirchen leer, bis Seine Majestät selbst eingegriffen hatte. „Sorgen Sie dafür,“ hatte er einer Abordnung der städtischen Behörden gesagt, „daß in Berlin Kirchen gebaut werden.“ Nun wurden sie gebaut, die Religion war wieder aktuell, es kam Betrieb hinein. Und alle, der Pastor, der Kneipwirt, Jadassohn und Diederich begeisterten sich für die tiefe Frömmigkeit des Monarchen. Da fiel ein Schuß.

„Es hat geknallt!“ Jadassohn sprang zuerst auf, alle sahen erbleicht einander an. Vor Diederichs innerem Auge erschien blitzschnell das knochige Gesicht Napoleon Fischers, seines Maschinenmeisters, mit dem schwarzen [ 153 ]Bart, durch den man die graue Haut sah, und er stammelte: „Der Umsturz! Es geht los!“ Draußen war Getrappel von Laufenden: auf einmal griffen alle nach ihren Hüten und rannten hinaus.

Die Leute, die sich schon angesammelt hatten, hielten in einem scheuen Bogen von der Ecke des Bezirkskommandos bis an die Treppe der Freimaurerloge. Drüben, wo der Kreis offen stand, lag jemand, das Gesicht nach unten, mitten auf der Straße. Und der Soldat, der vorhin so munter auf und ab gegangen war, stand jetzt unbeweglich vor seinem Schilderhaus. Der Helm hatte sich ihm verschoben, man sah, daß er bleich war, den Mund offen hatte und auf den Gefallenen hinstierte — indes er sein Gewehr beim Lauf hielt und es am Boden schleppen ließ. Im Publikum, zumeist Arbeitern und Frauen aus dem Volk, ward dumpf gemurrt. Plötzlich sagte eine Männerstimme sehr laut: „Oho!“ — und darauf trat tiefe Stille ein. Diederich und Jadassohn verständigten sich durch einen blassen Blick über das Kritische des Augenblicks.

Die Straße herunter lief ein Schutzmann und ihm voraus ein Mädchen, dessen Rock wehte und das schon von weitem rief:

„Da liegt er! Der Soldat hat geschossen!“

Sie war angelangt, sie warf sich auf die Knie, sie rüttelte den Mann. „Auf! Steh doch auf!“

Sie wartete. In seinen Füßen schien es zu zucken; aber er blieb liegen, Arme und Beine über das Pflaster gestreckt. Da schrie sie los: „Karl!“ Es gellte, daß alle auffuhren. Frauen schrien mit, mehrere Männer stürzten vor, die Fäuste geballt. Die Ansammlung war dichter geworden; zwischen den Wagen, die halten mußten, quoll Nachschub hervor; und in dem drohenden Gedränge [ 154 ]arbeitete das Mädchen sich ab, unter ihren aufgelösten Haaren, die flatterten, und mit verzerrtem, nassem Gesicht, woraus wohl Geschrei kam, aber man hörte es nicht, der Lärm verschlang es.

Der einzige Schutzmann drängte mit ausgebreiteten Armen die Menge zurück, sie trat sonst auf den Liegenden. Er schrie vergebens gegen sie an, tanzte ihr auf den Füßen und sah sich, den Kopf verlierend, in der Luft nach Hilfe um.

Und sie kam. Im Regierungsgebäude ging ein Fenster auf, ein großer Bart erschien, und eine Stimme drang heraus, eine furchtbare Baßstimme, die jeder, auch wenn er sie noch nicht verstand, durch allen Aufruhr dröhnen hörte wie fernen Kanonendonner.

„Wulckow“, sagte Jadassohn. „Na endlich.“

„Ich verbitte mir das!“ tönte es herunter. „Wer erlaubt sich hier vor meinem Hause Lärm zu machen?“ Und da es schon ruhiger ward:

„Wo ist der Posten?“

Jetzt sahen die meisten erst, daß der Soldat sich in sein Schilderhaus zurückgezogen hatte: so tief wie möglich, und nur der Gewehrlauf stand hervor.

„Komm ’raus, mein Sohn!“ befahl der Baß von oben. „Du hast deine Pflicht getan. Er hat dich gereizt. Für deine Tapferkeit wird Seine Majestät dich belohnen. Verstanden?“

Alle hatten ihn verstanden und waren verstummt, sogar das Mädchen. Um so ungeheurer dröhnte er.

„Zerstreut euch sofort, sonst lass’ ich schießen!“

Eine Minute, und einige liefen schon. Gruppen von Arbeitern lösten sich los, zögerten — und gingen wieder ein Stück weiter, mit gesenkten Köpfen. Der Regierungspräsident rief noch hinunter: [ 155 ]


„Paschke, holen Sie mal ’n Doktor!“

Dann klappte er das Fenster wieder zu. Im Eingang der Regierung aber ward es lebendig. Plötzlich waren Herren da, die kommandierten, eine Menge Schutzleute liefen von allen Seiten zusammen, knufften auf das Publikum ein, das noch übrig war, und schrien ganz allein. Diederich und seine Begleiter, die sich hinter ihre Ecke zurückgezogen hatten, sahen drüben auf der Treppe der Loge einige Herren stehen. Jetzt machte Doktor Heuteufel sich zwischen ihnen Platz. „Ich bin Arzt“, sagte er laut, ging rasch über die Straße und beugte sich zu dem Verwundeten. Er wendete ihn um, öffnete ihm die Weste und legte das Ohr an seine Brust. In diesem Augenblick waren alle still, sogar die Schutzleute schrien nicht mehr; das Mädchen aber stand da, vorwärts geneigt, die Schultern hinaufgezogen wie unter einem drohenden Schlag, und die Faust am Herzen geballt, als sei es dies Herz, das nun stillstehen sollte.

Doktor Heuteufel erhob sich. „Der Mann ist tot“, sagte er. Gleichzeitig bemerkte er das Mädchen, das schwankte. Er griff nach ihr. Aber sie stand schon wieder, sie sah auf das Gesicht des Toten nieder und sagte nur: „Karl.“ Noch leiser: „Karl.“ Doktor Heuteufel sah umher und fragte: „Was soll mit dem Mädchen geschehen?“

Da trat Jadassohn vor. „Assessor Jadassohn von der Staatsanwaltschaft“, sagte er. „Das Mädchen ist abzuführen. Da ihr Geliebter den Posten gereizt hat, liegt Verdacht vor, daß sie sich an der strafbaren Handlung beteiligt hat. Wir werden die Untersuchung einleiten.“

Zwei Schutzleute, denen er winkte, faßten das Mädchen schon an. Doktor Heuteufel erhob die Stimme: „Herr Assessor, ich erkläre als Arzt, daß der Zustand des Mädchens [ 156 ]seine Verhaftung nicht zuläßt.“ Jemand sagte: „Führen Sie doch auch den Toten ab!“ Aber Jadassohn krähte: „Herr Fabrikbesitzer Lauer, ich verbitte mir jede Kritik meiner amtlichen Maßnahmen!“

Diederich inzwischen hatte Zeichen hoher Erregung von sich gegeben. „Oh!… Ah!… Aber das ist —.“ Er war ganz bleich; er setzte an: „Meine Herren … Meine Herren, ich bin in der Lage —. Ich kenne diese Leute: jawohl, den Mann und das Mädchen. Doktor Heßling mein Name. Beide waren bis heute in meiner Fabrik beschäftigt. Ich mußte sie entlassen wegen öffentlich begangener unsittlicher Handlungen.“

„Aha!“ machte Jadassohn. Pastor Zillich rührte sich. „Das ist fürwahr der Finger Gottes“, sagte er. Der Fabrikant Lauer hatte sich in seinem grauen Spitzbart heftig gerötet, seine gedrungene Gestalt ward geschüttelt vom Zorn.

„Über den Finger Gottes läßt sich streiten. Sicher scheint nur, Herr Doktor Heßling, daß der Mann sich zu Ausschreitungen hat hinreißen lassen, weil die Entlassung ihm zu Herzen gegangen ist. Er hatte eine Frau, vielleicht auch Kinder.“

„Sie waren gar nicht verheiratet“, sagte Diederich, seinerseits entrüstet. „Ich weiß es von ihm selbst.“

„Was ändert das,“ fragte Lauer. Da erhob der Pastor die Arme. „Sind wir denn schon so weit,“ rief er, „daß es nichts ändert, ob das sittliche Gesetz Gottes befolgt wird oder nicht?“

Lauer erklärte es für unangebracht, auf der Straße und im Augenblick, wo jemand mit behördlicher Billigung totgeschossen worden sei, über sittliche Gesetze zu debattieren; und er wandte sich an das Mädchen, um ihm Arbeit in seiner Werkstatt anzubieten. Inzwischen war ein [ 157 ]Sanitätswagen angelangt; der Tote ward vom Boden aufgenommen. Wie man ihn aber hineinschob, fuhr das Mädchen aus seiner Starrheit empor, stürzte sich über die Bahre, entriß sie, ehe man es sich versah, den Männern, daß sie niederfiel — und zusammen mit dem Toten, in ihn verkrampft und unter gellendem Geschrei rollte sie auf das Pflaster. Mit großer Mühe ward sie von dem Leichnam gelöst und in eine Droschke gehoben. Der Assistenzarzt, der den Krankenwagen begleitet hatte, fuhr mit ihr fort.

Auf den Fabrikanten Lauer, der mit Heuteufel und den anderen Logenbrüdern weitergehen wollte, trat Jadassohn zu, in drohender Haltung. „Einen Augenblick, bitte. Sie äußerten da vorhin, daß hier mit behördlicher Billigung — ich nehme die Herren zu Zeugen, daß dies Ihr Ausdruck war — also mit behördlicher Billigung jemand totgeschossen sei. Ich möchte fragen, ob das von Ihrer Seite vielleicht eine Mißbilligung der Behörde bedeuten sollte.“

„Ach so“, machte Lauer und sah ihn an. „Mich möchten Sie wohl auch abführen lassen?“

„Zugleich“, fuhr Jadassohn mit hoher, schneidiger Stimme fort, „mache ich Sie darauf aufmerksam, daß das Verhalten eines Postens, der ein ihn belästigendes Individuum niederschießt, vor wenigen Monaten, nämlich im Fall Lück, von maßgebender Stelle als korrekt und tapfer bezeichnet und durch Auszeichnungen und Gnadenbeweise belohnt worden ist. Hüten Sie sich vor einer Kritik der Allerhöchsten Handlungen!“

„Ich habe keine ausgesprochen,“ sagte Lauer. „Ausgesprochen habe ich bis jetzt nur meine Mißbilligung des Herrn dort mit dem gefährlichen Schnurrbart.“

„Wie?“ fragte Diederich, der noch immer die Pflastersteine ansah, wo der Erschossene gefallen war und wo ein [ 158 ]wenig Blut lag. Er begriff endlich, daß er herausgefordert war.

„Der Schnurrbart wird von Seiner Majestät getragen!“ sagte er fest. „Es ist die deutsche Barttracht. Im übrigen lehne ich jede Diskussion mit einem Arbeitgeber ab, der den Umsturz fördert.“

Lauer öffnete schon wütend den Mund, obwohl der Bruder des alten Buck, Heuteufel, Cohn und Landgerichtsrat Fritzsche ihn fortziehen wollten; und neben Diederich reckten sich kampfbereit Jadassohn und Pastor Zillich: — da erschien im Eilschritt eine Abteilung Infanterie, sperrte die Straße ab, die ganz geleert war, und der Leutnant, der die Führung hatte, forderte die Herren zum Weitergehen auf. Alle gehorchten schleunigst; sie sahen noch, wie der Leutnant vor den Wachtposten hintrat und ihm die Hand schüttelte.

„Bravo!“ sagte Jadassohn. Und Doktor Heuteufel: „Morgen kommen nun Hauptmann, Major und Oberst dran, müssen belobigen und dem Kerl Geldgeschenke machen.“

„Sehr richtig!“ sagte Jadassohn.

„Aber —“ Heuteufel blieb stehen. „Meine Herren, verständigen wir uns doch. Hat denn das alles einen Sinn? Nur weil dieser Bauerntölpel keinen Spaß verstanden hat? Ein Witz, ein gutmütiges Lachen nur, und er entwaffnet den Arbeiter, der ihn herausfordern möchte, seinen Kameraden, einen armen Teufel wie er selbst. Statt dessen befiehlt man ihm zu schießen. Und nachher kommen die großen Worte.“

Landgerichtsrat Fritzsche stimmte bei und riet zur Mäßigung. Da sagte Diederich, noch bleich und mit einer Stimme, die erschauerte:

„Das Volk muß die Macht fühlen! Das Gefühl der [ 159 ]kaiserlichen Macht ist mit einem Menschenleben nicht zu teuer bezahlt!“

„Wenn es nur nicht Ihres ist“, sagte Heuteufel. Und Diederich, die Hand auf der Brust:

„Wenn es auch meins wäre!“
 

Heuteufel zuckte die Achseln. Während man weiterging, versuchte Diederich dem Pastor Zillich, mit dem er ein Stück zurückblieb, seine Empfindungen zu erklären. „Für mich“, sagte er, schnaufend vor innerer Bewegung, „hat der Vorgang etwas direkt Großartiges, sozusagen Majestätisches. Daß da einer, der frech wird, einfach abgeschossen werden kann, ohne Urteil, auf offener Straße! Bedenken Sie: mitten in unserem bürgerlichen Stumpfsinn kommt so was — Heroisches vor! Da sieht man doch, was Macht heißt!“

„Wenn sie von Gottes Gnaden ist“, ergänzte der Pastor.

„Natürlich. Das ist es eben. Drum hab’ ich geradezu eine religiöse Erhebung von der Sache. Man merkt doch manchmal, daß es höhere Dinge gibt, Gewalten, denen wir alle unterworfen sind. Denn zum Beispiel bei dem Berliner Krawall, vorigen Februar, als Seine Majestät sich mit so phänomenaler Kaltblütigkeit in den tobenden Aufruhr hinauswagten: na, ich sage nur —“ Da die übrigen vor dem Ratskeller stehengeblieben waren, erhob Diederich die Stimme. „Wenn damals der Kaiser die ganzen Linden hätte vom Militär absperren und in uns alle hätte ’reinschießen lassen, immer feste ’rein, sag ich…“

„Sie hätten Hurra geschrien,“ schloß Doktor Heuteufel.

„Sie vielleicht nicht?“ fragte Diederich und versuchte zu blitzen. „Ich hoffe doch, wir empfinden alle national!“

Der Fabrikant Lauer wollte schon wieder unvorsichtig entgegnen, ward aber zurückgehalten. Statt seiner sagte Cohn: [ 160 ]


„Nun, national bin ich auch. Aber bezahlen wir unsere Armee für solche Witze?“ Diederich maß ihn.

„Ihre Armee, sagen Sie? Herr Warenhausbesitzer Cohn hat eine Armee! Haben die Herren gehört?“ Er lachte erhaben. „Ich kannte bisher nur die Armee Seiner Majestät des Kaisers!“

Doktor Heuteufel brachte etwas von Volksrechten vor, aber Diederich betonte mit abgehackter Kommandostimme, daß er keinen Schattenkaiser wünsche. Ein Volk, das die straffe Zucht verliere, sei der Verlotterung geweiht … Inzwischen war man im Keller angelangt, Lauer und seine Freunde saßen schon. „Na, setzen Sie sich nicht zu uns?“ ward Diederich von Doktor Heuteufel gefragt. „Schließlich sind wir wohl alle liberale Männer.“ Da stellte Diederich fest: „Liberal selbstverständlich. Aber ich gehe in den großen nationalen Fragen aufs Ganze. Für mich gibt es da nur zwei Parteien, die Seine Majestät selbst gekennzeichnet haben: die für ihn und die gegen ihn. Und da scheint es mir allerdings, daß an dem Tisch der Herren für mich kein Platz ist.“

Er vollführte eine korrekte Verbeugung und ging hinüber zu dem leeren Tisch. Jadassohn und Pastor Zillich folgten ihm. Gäste, die in der Nähe saßen, sahen sich um; eine allgemeine Stille entstand. Mit dem Rausch des Erlebten stieg in Diederich der Plan empor, Sekt zu bestellen. Drüben ward geflüstert, dann rückte jemand seinen Stuhl, es war Landgerichtsrat Fritzsche. Er verabschiedete sich, kam an Diederichs Tisch, um ihm, Jadassohn und Zillich die Hände zu schütteln, und ging hinaus.

„Das wollte ich ihm auch geraten haben“, bemerkte Jadassohn. „Er hat die Unhaltbarkeit seiner Lage noch rechtzeitig erkannt.“ Diederich sagte: „Eine reinliche [ 161 ]Scheidung war vorzuziehen. Wer in nationaler Beziehung ein gutes Gewissen hat, braucht diese Leute wahrhaftig nicht zu fürchten.“ Aber Pastor Zillich schien betreten. „Der Gerechte muß viel leiden,“ sagte er. „Sie wissen noch nicht, wie Heuteufel intrigant ist. Morgen erzählt er Gott weiß welche Greuel über uns.“ Da zuckte Diederich zusammen. Doktor Heuteufel war eingeweiht in jenen immerhin dunklen Punkt seines Lebens, als er vom Militär loszukommen wünschte! Er hatte ihm, in einem höhnischen Brief, das Krankheitsattest verweigert! Er hielt ihn in der Hand, er konnte ihn vernichten! In seinem jähen Schrecken befürchtete Diederich sogar Enthüllungen aus seiner Schulzeit, als Doktor Heuteufel ihn im Hals gepinselt und ihm dabei Feigheit vorgeworfen hatte. Der Schweiß brach ihm aus. Um so lauter bestellte er Hummern und Sekt.

Drüben bei den Logenbrüdern hatte man sich aufs neue über den gewaltsamen Tod des jungen Arbeiters erregt. Was das Militär und die Junker, die es befehligten, sich denn einbildeten! Sie benahmen sich ja wie in einem eroberten Land! Und als die Köpfe rot genug waren, verstiegen sich die Herren dazu, für das Bürgertum, das tatsächlich alle Leistungen liefere, auch die Führung im Staat zu verlangen. Herr Lauer wünschte zu wissen, was die herrschende Kaste vor anderen Leuten eigentlich noch voraus habe. „Nicht einmal die Rasse“, behauptete er. „Denn sie sind ja alle verjudet, die Fürstenhäuser einbegriffen.“ Und er setzte hinzu: „Womit ich meinen Freund Cohn nicht kränken will.“

Es war Zeit, einzuschreiten: Diederich fühlte es. Schnell stürzte er noch ein Glas hinunter, dann stand er auf, trat wuchtig bis in die Mitte unter den gotischen Kronleuchter und sagte scharf: [ 162 ]{{nop}

„Herr Fabrikbesitzer Lauer, ich gestatte mir die Frage, ob Sie unter den Fürstenhäusern, die nach Ihrer persönlichen Meinung verjudet sind, auch deutsche Fürstenhäuser verstehen.“

Lauer erwiderte ruhig, beinahe freundlich: „Gewiß doch.“

„So“, machte Diederich, und er schöpfte tief Atem, um zu seinem großen Schlag auszuholen. Unter der Aufmerksamkeit des ganzen Lokals fragte er:

„Und den verjudeten deutschen Fürstenhäusern rechnen Sie auch das eine zu, das ich nicht erst zu nennen brauche?“ Triumphierend sagte Diederich dies, vollkommen sicher, daß nun sein Gegner sich verwirren, stammeln und unter den Tisch kriechen werde. Aber er stieß auf einen nicht vorauszusehenden Zynismus.

„Na ja doch“, sagte Lauer.

Jetzt war es an Diederich, die Haltung zu verlieren vor Entsetzen. Er sah umher: ob er denn recht gehört habe. Die Gesichter bestätigten es ihm. Da brachte er hervor, es werde sich zeigen, welche Folgen diese Äußerung für den Herrn Fabrikbesitzer haben werde, und zog sich in leidlicher Ordnung in das befreundete Lager zurück. Gleichzeitig tauchte Jadassohn wieder auf, der verschwunden gewesen war, man wußte nicht wohin.

„Ich habe dem soeben Vorgefallenen nicht beigewohnt“, sagte er sofort. „Ich stelle dies ausdrücklich fest, da es für die weitere Entwicklung von Bedeutung sein könnte.“ Und dann ließ er sich genau berichten. Diederich tat es mit Feuer; er nahm es als sein Verdienst in Anspruch, dem Feind den Weg abgeschnitten zu haben. „Jetzt haben wir ihn in der Hand!“

„Allerdings,“ bestätigte Jadassohn, der sich Notizen gemacht hatte. [ 163 ]


Vom Eingang her nahte auf steifen Beinen ein älterer Herr mit grimmiger Miene. Er grüßte nach beiden Seiten und schickte sich an, zu den Vertretern des Umsturzes zu stoßen. Aber Jadassohn holte ihn noch ein. „Herr Major Kunze! Nur ein Wort!“ Er redete halblaut auf ihn ein und deutete dabei mit den Augen nach links und rechts. Der Major schien im Zweifel. „Sie geben mir Ihr Ehrenwort, Herr Assessor,“ sagte er, „daß das tatsächlich behauptet wurde?“ Während Jadassohn es ihm gab, trat der Bruder des Herrn Buck herbei, lang und elegant, lächelte unbedeutend und bot dem Herrn Major für alles eine befriedigende Erklärung an. Aber der Major bedauerte; für eine solche Äußerung gebe es einfach keine Erklärung; und seine Miene ward von erschreckender Düsterkeit. Trotzdem sah er noch mit Bedauern nach seinem alten Stammtisch hinüber. Da, im entscheidenden Moment, hob Diederich die Sektflasche aus dem Kübel. Der Major bemerkte es und folgte seinem Pflichtgefühl. Jadassohn stellte vor: „Herr Fabrikbesitzer Doktor Heßling.“

Diederichs Rechte und die des Majors drückten einander mit Aufbietung aller Kraft. Fest und bieder blickten die Herren sich ins Auge. „Herr Doktor,“ sagte der Major, „Sie haben sich als deutscher Mann bewährt.“ Man scharrte mit den Füßen, rückte die Stühle zurecht, präsentierte voreinander die Gläser, und dann durfte man trinken. Diederich bestellte sofort eine neue Flasche. Der Major leerte sein Glas, sooft es ihm vollgeschenkt wurde, und zwischen den Zügen versicherte er, auch er stehe, was deutsche Treue betreffe, seinen Mann. „Wenn mein König mich nun auch schon aus seinem aktiven Dienst entlassen hat —“

„Der Herr Major“, erklärte Jadassohn, „war zuletzt beim hiesigen Bezirkskommando.“ [ 164 ]


„— ich habe noch das alte Soldatenherz —“ er klopfte mit den Fingern darauf — „und unpatriotische Tendenzen werde ich stets bekämpfen. Mit Feuer und Schwert!“ schrie er und ließ die Faust auf den Tisch fallen. Im selben Augenblick zog hinter seinem Rücken der Warenhausbesitzer Cohn tief den Hut und entfernte sich eilig. Der Bruder des Herrn Buck suchte zuerst noch die Toilette auf, damit sein Verschwinden einen weniger fluchtartigen Charakter trage. „Aha!“ sagte Jadassohn um so lauter. „Herr Major, der Feind ist aufgerieben.“ Pastor Zillich war noch immer beunruhigt.

„Heuteufel ist dageblieben. Ich traue ihm nicht.“

Aber Diederich, der die dritte Flasche bestellte, sah sich höhnisch nach Lauer und Doktor Heuteufel um, die vereinsamt dasaßen und beschämt ihre Biergläser anstarrten.

„Wir haben die Macht“, sagte er, „und die Herren dort drüben sind sich dessen bewußt. Sie revoltieren schon gar nicht mehr, weil der Posten geschossen hat. Sie machen Gesichter, als hätten sie Angst, daß sie nun selbst bald drankommen. Und sie kommen auch dran!“ Diederich erklärte, daß er wegen der vorhin gefallenen Äußerungen eine Anzeige gegen den Herrn Lauer bei der Staatsanwaltschaft erstatten werde. „Und ich werde dafür sorgen,“ versicherte Jadassohn, „daß die Anklage erhoben wird. Ich persönlich werde sie in der Hauptverhandlung vertreten. Die Herren wissen, daß ich als Zeuge nicht in Betracht komme, da ich den Vorgängen selbst nicht beigewohnt habe.“

„Wir werden hier den Sumpf mal trocken legen“, sagte Diederich, und er fing von dem Kriegerverein an, auf den die treudeutsch und kaiserlich gesinnten Männer sich vor allem stützen müßten. Der Major nahm eine Amtsmiene [ 165 ]an. Jawohl, er war im Vorstand des Kriegervereins. Man diente seinem König immer noch, so gut man konnte. Er war auch bereit, Diederich zur Aufnahme vorzuschlagen, damit die nationalen Elemente eine Kräftigung erführen. Denn bis jetzt, das durfte man sich nicht verhehlen, überwogen auch dort die leidigen Demokraten. Man nahm, nach der Meinung des Majors, behördlicherseits zu viel Rücksicht auf die in Netzig gegebenen Verhältnisse. Er selbst würde, wenn er zum Bezirkskommandanten ernannt worden wäre, den Herren Reserveoffizieren bei den Wahlen auf die Finger gesehen haben, dafür garantierte er. „Aber da mein König mir die Möglichkeit leider genommen hat —“ Diederich schenkte, um ihn zu trösten, frisch ein. Während der Major trank, beugte Jadassohn sich zu Diederich und raunte: „Glauben Sie ihm kein Wort! Er ist ein schlapper Hund und kriecht vor dem alten Buck. Wir müssen ihm imponieren.“

Diederich tat dies sofort. „Ich habe nämlich mit dem Herrn Regierungspräsidenten von Wulckow bereits formelle Verabredungen getroffen.“ Und da der Major die Augen aufriß:

„Nächstes Jahr, Herr Major, sind die Reichstagswahlen. Da werden wir Gutgesinnten schwere Arbeit haben. Der Kampf beginnt schon.“

„Los!“ sagte der Major ingrimmig. „Prost!“

„Prost!“ sagte Diederich. „Aber, meine Herren, mögen die subversiven Tendenzen im Lande noch so stark sein, wir sind stärker, denn wir haben einen Agitator, den die Gegner nicht haben, und das ist Seine Majestät.“

„Bravo!“

„Seine Majestät hat für alle Teile seines Staates, also auch für Netzig, die Forderung aufgestellt, daß die Bürger [ 166 ]endlich aus dem Schlummer erwachen mögen! Und das wollen wir auch!“

Jadassohn, der Major und Pastor Zillich bekundeten ihre Wachheit, indem sie auf den Tisch schlugen, Beifall riefen und einander zutranken. Der Major schrie: „Zu uns Offizieren hat Seine Majestät gesagt: Dies sind die Herren, auf die ich mich verlassen kann!“

„Und zu uns“, schrie Pastor Zillich, „hat er gesagt, wenn die Kirche der Fürsten bedürfen wird —“.

Man durfte allen Zwang ablegen, denn der Keller hatte sich längst geleert, Lauer und Heuteufel waren ungesehen entkommen, und in den hinteren Bogengewölben brannte schon kein Gas mehr.

„Er hat auch gesagt —“ Diederich blies die Backen feuerrot auf, der Schnurrbart stieß ihm in die Augen, aber dennoch blitzte er fürchterlich. „Wir stehen im Zeichen des Verkehrs! Und so ist es auch! Unter seiner erhabenen Führung sind wir fest entschlossen, Geschäfte zu machen!“

„Und Karriere!“ krähte Jadassohn. „Seine Majestät hat gesagt, jeder, der ihm behilflich sein will, ist ihm willkommen. Will das jemand vielleicht auf mich nicht mitbeziehen?“ fragte Jadassohn herausfordernd, mit blutig leuchtenden Ohren. Der Major brüllte wieder:

„Und mein König kann sich totsicher auf mich verlassen. Er hat mich zu früh weggeschickt, als ehrlicher deutscher Mann sage ich es ihm laut ins Gesicht. Er wird mich noch mal bitter nötig haben, wenn es losgeht. Ich denke nicht daran, den Rest meines Lebens bloß noch mit Knallbonbons zu schießen auf Vereinsbällen. Ich war bei Sedan!“

„Herrjemersch, und ich doch ooch!“ ertönte es von dünner Schreistimme aus unsichtbaren Tiefen, und den Schatten der Gewölbe entstieg ein kleiner Greis mit [ 167 ]flatternden weißen Haaren. Er schwankte herbei, seine Brillengläser funkelten, seine Backen glühten, und er schrie: „Der Herr Major Kunze! Nu da! Alter Kriegskamerad, bei Ihnen geht’s ja zu wie dunnemals in Frankreich. Ich sag’ es aber immer: gut gelebt und lieber ä paar Jahre länger!“ Der Major stellte ihn vor. „Herr Gymnasialprofessor Kühnchen.“ Wie es kam, daß er dort hinten im Dunkeln vergessen worden sei, darüber äußerte der kleine Greis die lebhaftesten Vermutungen. Früher hatte er sich in einer Gesellschaft befunden. „Nu muß ich wohl ä bißchen eingeschlummert sein, und da sein die verdammten Lumichs mir ausgerückt.“ Der Schlaf hatte ihm vom Feuer der genossenen Getränke noch nichts genommen, er erinnerte, prahlerisch kreischend, den Major an ihre gemeinsamen Taten im eisernen Jahr. „Die Franktiröhrs!“ schrie er, und aus seinem faltigen, zahnlosen Munde rann Feuchtigkeit. „Das war Sie eene Bande! Wie die Herren mich da sähn, hab’ ich doch noch immer een’ steifen Finger, da hat mich ä Franktiröhr draufgebissen. Bloß weil ich ihm mit meim Säbel ä kleenes bißchen die Kehle abschneiden wollte. So eene Gemeinheit von dem Kerl!“ Er zeigte den Finger am Tisch umher und erregte Ausrufe der Bewunderung. Diederichs begeisterte Gefühle freilich mischten sich mit Schrecken, er mußte sich in die Lage des Franktiröhrs denken: der kleine leidenschaftliche Greis kniete auf seiner Brust und setzte ihm die Klinge an den Hals. Er war genötigt, einen Augenblick hinauszugehen.

Wie er zurückkehrte, gaben der Major und Professor Kühnchen, einander überschreiend, den Bericht eines wilden Kampfes. Man verstand keinen. Aber Kühnchen schrillte immer schärfer durch das Gebrüll des anderen, bis er es zum Schweigen gebracht hatte und ungestört [ 168 ]aufschneiden konnte. „Nee, alter Freund, Sie sein ä anschlägscher Kopf. Wenn Sie die Treppe ’runterfallen, verfehlen Sie keene Stufe. Aber das Feuer damals an dem Haus, wo die Franktiröhrs drinne saßen, das hat Kühnchen angelegt, da gibt’s nischt. Ich hab’ doch eene Kriegslist gebraucht und hab’ mich totgestellt, da ham die dummen Luder nischt gemerkt. Und wie’s erscht gebrannt hat, nu, versteht sich, da hamse an der Verteidchung des Vaterlandes keen’ Geschmack mehr gefunden, und bloß noch ’raus, bloß noch Soofgipöh! Da hätten Se nu aber uns Deutsche sehen sollen. Von der Mauer hammer sie weggeschossen, wie sie ’runterkrabbeln wollten! Luftsprünge hamse gemacht wie die Garniggel!“

Kühnchen mußte seine Erfindung unterbrechen, er kicherte durchdringend, indes die Tafelrunde dröhnend lachte.

Kühnchen erholte sich. „Die falschen Luder hatten uns aber auch tückisch gemacht! Und die Weiber! Nee, meine Herren, so was Beesartches wie die franzeeschen Weiber, das gibt’s Sie nu überhaupt nicht mehr. Heeßes Wasser hatten se uns auf die Köppe geschiddet. Nu frag’ ich Sie, tut das eene Dame? Wie’s brannte, warfen sie die Kinder aus’m Fenster und wollten ooch noch von uns, daß wir se auffangen sollten. Hibsch nich, aber dumm! Mit unsern Bajonetten hammer die kleenen Luder uffgefangen. Und dann die Damen!“ Kühnchen hielt die gichtischen Finger gekrümmt wie um einen Gewehrkolben und sah dabei nach oben, als gäbe es noch jemand aufzuspießen. Seine Brillengläser funkelten, er log weiter. „Zuletzt kam eene ganz Dicke ’ran, die konnte von vorn nicht durchs Fenster, drum versuchte se mal, ob’s nicht von hinten ginge. Da haste nun aber nicht mit Kühnchen gerechnet, mei Schibbchen. Ich nich faul, steiche uf [ 169 ]die Schultern von zwei Kameraden drauf un kitzle sie mit meim Bachonedde in ihren dicken franzeeschen —“

Mehr hörte man nicht, der Beifall war zu laut. Der Professor sagte noch: „Jeden Sedang erzähl’ ich die Geschichte in ädlen Worten meiner Klasse. Die Jungen solln wissen, was sie für Heldenväter gehabt haben.“

Man war sich einig, daß dies die nationale Gesinnung des jungen Geschlechts nur befördern könne, und man stieß an mit Kühnchen. Vor lauter Begeisterung hatte noch keiner bemerkt, daß ein neuer Gast an den Tisch getreten war. Jadassohn sah plötzlich den bescheiden grauen Mann im Hohenzollernmantel und winkte ihm gönnerhaft. „Na, man immer ’ran, Herr Nothgroschen!“ Diederich herrschte ihn an, aus seinen Hochgefühlen heraus. „Wer sind Sie?“

Der Fremde dienerte.

„Nothgroschen, Redakteur der Netziger Zeitung.“

„Also Hungerkandidat“, sagte Diederich und blitzte. „Verkommene Gymnasiasten, Abiturientenproletariat, Gefahr für uns!“

Alle lachten; der Redakteur lächelte demütig mit.

„Seine Majestät hat Sie gekennzeichnet“, sagte Diederich. „Na, setzen Sie sich!“

Er schenkte ihm sogar Sekt ein, und Nothgroschen trank in dankbarer Haltung. Nüchtern und befangen sah er in der Gesellschaft umher, deren Selbstbewußtsein durch die vielen, leer am Boden stehenden Flaschen so sehr gesteigert worden war. Man vergaß ihn sogleich wieder. Er wartete geduldig, bis jemand ihn fragte, wieso er denn mitten in der Nacht noch hier hereinschneie. „Ich mußte das Blatt doch fertig machen“, erklärte er darauf, wichtig wie ein kleiner Beamter. „Die Herren wollen morgen früh in [ 170 ]der Zeitung lesen, wie das war mit dem erschossenen Arbeiter.“

„Das wissen wir besser als Sie“, schrie Diederich. „Sie saugen sich das ja doch nur aus Ihren Hungerpfoten!“

Der Redakteur lächelte entschuldigend, und er hörte ergeben zu, wie alle durcheinander ihm die Vorgänge darstellten. Als der Lärm sich legte, setzte er an. „Da der Herr dort —“

„Doktor Heßling,“ sagte Diederich scharf.

„Nothgroschen“, murmelte der Redakteur. „Da Sie vorhin den Namen des Kaisers erwähnten, wird es die Herren interessieren, daß wieder eine Kundgebung vorliegt.“

„Ich verbitte mir jede Nörgelei!“ heischte Diederich. Der Redakteur duckte sich und legte die Hand auf die Brust. „Es handelt sich um einen Brief des Kaisers.“

„Der ist Ihnen wohl wieder mal durch einen infamen Vertrauensbruch auf den Schreibtisch geflogen?“ fragte Diederich. Nothgroschen stellte beteuernd die Hand vor sich hin. „Er ist vom Kaiser selbst zur Veröffentlichung bestimmt. Morgen früh werden Sie ihn in der Zeitung lesen. Hier ist die Druckfahne!“

„Legen Sie los, Doktor“, befahl der Major. Diederich rief: „Wieso, Doktor? Sind Sie Doktor?“ Aber man interessierte sich nur noch für den Brief, man entriß dem Redakteur den Zettel. „Bravo!“ rief Jadassohn, der noch ziemlich mühelos las. „Seine Majestät bekennt sich zum positiven Christentum.“ Pastor Zillich frohlockte so heftig, daß sich Schluckauf einstellte. „Das ist was für Heuteufel! Endlich kriegt so ein frecher Wissenschaftler, huck, was ihm gehört. An die Offenbarungsfrage machen sie sich heran. Die versteh’ ja ich kaum, huck, und ich hab’ Theologie studiert!“ Professor Kühnchen schwenkte die [ 171 ]Blätter hoch in der Luft. „Meine Härn! Wenn ’ch den Brief nicht in der Klasse lesen lasse und als Aufsatzthema gebe, will’ch nicht mehr Kühnchen heeßen!“

Diederich war tiefernst. „Jawohl war Hammurabi ein Werkzeug Gottes! Ich möchte mal sehen, wer das leugnet!“ Und er blitzte umher. Nothgroschen krümmte die Schultern. „Na, und Kaiser Wilhelm der Große!“ fuhr Diederich fort. „Von dem bitte ich es mir ganz energisch aus! Wenn der kein Werkzeug Gottes war, dann weiß Gott überhaupt nicht, was ’n Werkzeug ist!“

„Ganz meine Meinung“, versicherte der Major. Glücklicherweise widersprach auch sonst niemand, denn Diederich war zum Äußersten entschlossen. An den Tisch geklammert, stemmte er sich von seinem Stuhl empor. „Aber unser herrlicher junger Kaiser?“ fragte er drohend. Von allen Seiten antwortete es: „Persönlichkeit … Impulsiv … Vielseitig … Origineller Denker.“ Diederich war nicht befriedigt.

„Ich beantrage, daß er auch ein Werkzeug ist!“

Es ward angenommen.

„Und ich beantrage ferner, daß wir Seine Majestät von unserem Beschluß telegraphisch in Kenntnis setzen!“

„Ich befürworte den Antrag!“ brüllte der Major. Diederich stellte fest: „Einmütige begeisterte Annahme!“ und fiel auf seinen Sitz zurück. Kühnchen und Jadassohn machten sich gemeinsam an die Abfassung der Depesche. Sie lasen vor, sobald sie etwas gefunden hatten.

„Eine im Ratskeller zu Netzig versammelte Gesellschaft —“

„Tagende Versammlung“, forderte Diederich. Sie fuhren fort:

„Versammlung national gesinnter Männer —“

„National, huck, und christlich“, ergänzte Pastor Zillich. [ 172 ]


„Aber wollen die Herren denn wirklich?“ fragte Nothgroschen, leise flehend. „Ich dachte, es sei ein Scherz.“

Da ward Diederich zornig.

„Wir scherzen nicht mit den heiligsten Gütern! Ich soll Ihnen das wohl handgreiflich klarmachen, Sie verkrachter Abiturient?“

Da Nothgroschens Hände den vollkommensten Verzicht beteuerten, war Diederich sofort wieder ruhig und sagte: „Prost!“ Dagegen schrie der Major, als sollte er platzen. „Wir sind die Herren, auf die Seine Majestät sich verlassen kann!“ Jadassohn bat um Ruhe und er las.

„Die im Ratskeller zu Netzig tagende Versammlung national und christlich gesinnter Männer entbietet Eurer Majestät ihre einmütige begeisterte Huldigung angesichts von Eurer Majestät erhebendem Bekenntnis einer geoffenbarten Religion. Wir beteuern unseren tiefsten Abscheu vor dem Umsturz in jeder Gestalt und sehen in der heute bei uns in Netzig erfolgten mutigen Tat eines Postens die erfreuliche Bestätigung, daß Eure Majestät nicht weniger als Hammurabi und Kaiser Wilhelm der Große das Werkzeug Gottes ist.“ Man klatschte, und Jadassohn lächelte geschmeichelt.

„Unterschreiben!“ rief der Major. „Oder hat einer der Herren noch etwas zu bemerken?“ Nothgroschen räusperte sich. „Nur ein einziges Wort, mit aller gebührenden Bescheidenheit.“

„Das möchte ich mir ausbitten“, sagte Diederich. Der Redakteur hatte sich Mut getrunken, er schwankte auf seinem Sitz und kicherte ohne Grund.

„Ich will ja gar nichts gegen den Posten sagen, meine Herren. Ich hab’ mir sogar schon immer gedacht, Soldaten sind zum Schießen da.“

„Na also.“ [ 173 ]


„Ja, aber wissen wir, ob auch der Kaiser so denkt?“

„Selbstverständlich! Fall Lück!“

„Präzedenzfälle — hihi — sind ganz schön, aber wir wissen doch alle, daß der Kaiser ein origineller Denker und — hihi — impulsiv ist. Er läßt sich nicht gern vorgreifen. Wenn ich in der Zeitung schreiben wollte, daß Sie, Herr Doktor Heßling, Minister werden sollen, dann — hihi — werden Sie es gerade nicht.“

„Jüdische Verdrehungen!“ rief Jadassohn. Der Redakteur entrüstete sich. „Ich schreibe anderthalb Spalten Stimmung an jedem hohen Kirchenfest. Der Posten aber, der kann auch wegen Mord angeklagt werden. Dann sind wir ’reingefallen.“

Eine Stille folgte. Der Major legte nachdenklich den Bleistift aus der Hand. Diederich ergriff ihn. „Sind wir nationale Männer?“ Und er unterschrieb wuchtig. Da brach Begeisterung aus. Nothgroschen wollte gleich als Zweiter drankommen.

„Aufs Telegraphenamt!“

Diederich gab Auftrag, daß die Rechnung ihm morgen zugestellt werde, und man brach auf. Nothgroschen war auf einmal voll ausschweifender Hoffnungen. „Wenn ich die kaiserliche Antwort bringen kann, komme ich zu Scherl!“

Der Major brüllte: „Wir wollen doch mal sehen, ob ich noch lange Wohltätigkeitsfeste arrangiere!“

Pastor Zillich sah die Leute sich in seiner Kirche erdrücken und Heuteufel von der Menge gesteinigt. Kühnchen schwärmte von Blutbädern in den Straßen von Netzig. Jadassohn krähte: „Erlaubt sich vielleicht jemand einen Zweifel an meiner Kaisertreue?“ Und Diederich: „Der alte Buck soll sich hüten! Klüsing in Gausenfeld auch! Wir erwachen aus dem Schlummer!“ [ 174 ]


Die Herren hielten sich alle sehr gerade, und manchmal schoß einer unvermutet ein Stück vorwärts. Mit ihren Stöcken strichen sie tosend über die herabgelassenen Rolläden, und im Takt voneinander unabhängig sangen sie die Wacht am Rhein. An der Ecke des Landgerichts stand ein Schutzmann, aber zu seinem Glück rührte er sich nicht. „Wollen Sie vielleicht etwas, Männeken?“ rief Nothgroschen, der aus Rand und Band war. „Wir telegraphieren an den Kaiser!“ Vor dem Postgebäude ward Pastor Zillich, der den schwächsten Magen hatte, von einem Unglück betroffen. Indes die anderen ihm seine Lage zu erleichtern suchten, klingelte Diederich den Beamten heraus und gab das Telegramm auf. Als der Beamte es gelesen hatte, betrachtete er Diederich zögernd — aber Diederich blitzte ihn so furchtbar an, daß er zurückschrak und seine Pflicht tat. Diederich inzwischen fuhr ohne Zweck fort, zu blitzen und steinern dazustehen: in der Haltung des Kaisers, wenn nun ein Flügeladjutant ihm die Heldentat des Postens meldete und der Chef des Zivilkabinetts ihm die Huldigungsdepesche überbrachte. Diederich fühlte den Helm auf seinem Kopf, er schlug gegen den Säbel an seiner Seite und sagte: „Ich bin sehr stark!“ Der Telegraphist hielt es für eine Reklamation und zählte ihm das kleine Geld nochmals vor. Diederich nahm es, trat an einen Tisch und warf einige Zeilen auf ein Papier. Dann steckte er es zu sich und kehrte zu den Herren zurück.

Sie hatten für den Pastor eine Droschke beschafft, er fuhr soeben fort und winkte weinend aus dem Fenster, als sei es für ewig. Jadassohn bog beim Theater um eine Ecke, obwohl der Major ihm nachbrüllte, seine Wohnung sei doch ganz woanders. Plötzlich war dann auch der Major fort, und Diederich gelangte mit Nothgroschen [ 175 ]allein in die Lutherstraße. Vor dem Walhalla-Theater war der Redakteur nicht mehr weiter zu bringen, mitten in der Nacht wollte er das „elektrische Wunder“ sehen, eine Dame, die dort Feuer sprühen sollte. Diederich mußte ihm ernstlich vorhalten, daß dies nicht die Stunde für solche Frivolitäten sei. Übrigens vergaß Nothgroschen das „elektrische Wunder“, sobald er das Haus der „Netziger Zeitung“ erblickte. „Aufhalten!“ schrie er. „Die Maschine aufhalten! Das Telegramm der nationalen Männer muß noch hinein!… Sie wollen es doch morgen früh in der Zeitung lesen“, sagte er zu einem vorübergehenden Nachtwächter. Da packte Diederich ihn fest am Arm.

„Nicht nur dieses Telegramm“, sagte er, kurz und leise. „Ich habe noch ein anderes.“ Er zog ein Papier aus der Tasche. „Der Nachttelegraphist ist ein alter Bekannter von mir, er hat es mir anvertraut. Über diese Herkunft werden Sie mir strenge Diskretion versprechen, der Mann wäre sonst in seiner Stellung bedroht.“

Da Nothgroschen sofort alles versprach, sagte Diederich, ohne das Papier dabei anzusehen:

„Es ist an das Regimentskommando gerichtet und vom Obersten selbst dem Posten mitzuteilen, der heute den Arbeiter erschossen hat. Es lautet: Für Deinen auf dem Felde der Ehre vor dem inneren Feind bewiesenen Mut spreche ich Dir meine kaiserliche Anerkennung aus und ernenne Dich zum Gefreiten … Überzeugen Sie sich“ — und Diederich reichte dem Redakteur das Papier hin. Aber Nothgroschen sah es nicht an, er starrte nur, wie entgeistert, auf Diederich, auf seine steinerne Haltung, den Schnurrbart, der ihm in die Augen stach, und die Augen, die blitzten.

„Jetzt glaubte ich fast —“ stammelte Nothgroschen. „Sie haben so viel Ähnlichkeit mit — mit —.“