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Page:Labi 1998.djvu/301

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beschränkte Aufnahme der «fremden Elemente», da deren «Freizügigkeit [...] in sittlicher Beziehung sehr dunkle Schatten» vorauswerfen würde.[14]

Von der Kirchenkanzel tönte plötzlich das Wort «Liberalismus», im gleichen Atemzug sprach der Pfarrer von den Gefahren des «Sozialismus». Traditionelle Denk- und Verhaltensformen, die Skepsis gegenüber Neuem, stellten sich häufig gegen die Verbreitung fortschrittlicher Ideologien, mit denen die veränderte Situation in ein neues Licht gerückt werden konnte. Bisher unbekannte Konfliktpotentiale wurden dadurch geschaffen: Ein «Riss [...] ging mitten durch die Häuser zwischen Kindern und Eltern, zwischen Brüdern und Schwestern, ja zwischen Gatten und Gattinen»,[15] schrieb der Vorarlberger Bauer und Schriftsteller Franz Michael Felder. Geprägt von einer eigentümlichen Melange aus Liberalismus und Sozialismus, hatte er in den 1860er Jahren eine Käsereigenossenschaft und eine «Partei der Gleichberechtigung» gegründet; der Pfarrer sah bereits die Französische Revolution in den Bregenzerwald einkehren.[16] «Die öffentliche Meinung» wurde von Felder als «ein uraltes Weib» bezeichnet, «mit allen Vorurteilen ihrer Zeitgenossen und deren Vorfahren».[17] Dies galt im übrigen nicht nur für die dörfliche Gesellschaft. Die aktuelle Bürgertumsforschung hat zwar gezeigt, dass das alte «ständische» Bürgertum in den Provinzstädten durchaus innovativ agieren konnte;[18] in manchen Städten aber, etwa in Bozen, blieb das alte Stadtbürgertum weiterhin dem Konservatismus verpflichtet.[19]

Die Rezeption moderner Ideologien hing von der regional- beziehungsweise lokalspezifischen Situation ab. So bewahrte sich etwa die heimische Textilarbeiterschaft in Vorarlberg ihre soziale Bindung an das ländliche Milieu. Ihr Grundbesitz, ein Ergebnis der in Vorarlberg üblichen Realteilung, liess die Arbeit in der Fabrik als vorübergehend erscheinen und ermöglichte den Fortbestand traditioneller Denk- und Handlungsmuster.[20] Auch die erste Generation der italienischen Zuwanderer konnte an ihren trentinischen Bräuchen festhalten. Zum einen hatten sie neben ihren wenigen Habseligkeiten «auch ihr bisheriges <Kulturgepäck>, ihr <Kulturinventar>», auf die Reise mitgenommen. Zum anderen waren sie zunächst aus nur wenigen Gemeinden emigriert und trafen daher auf Bekannte. Vertraute soziale Beziehungen blieben somit partiell erhalten und erleichterten die Traditionspflege.[21] Die Sozialdemokratie in Vorarlberg blieb daher allein den Handwerksgesellen Vorbehalten. Erst seit der Jahrhundertwende finden sich auch Industriearbeiter in der Vorarlberger Arbeiterbewegung, unter anderem die zweite Generation der italienischen Immigranten.[22]

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HELLMUTH: «DIE ÖFFENTLICHE MEINUNG ...»