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Page:Labi 1998.djvu/314

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deutsche Bevölkerung der Alpenländer im Falle eines militärischen Konfliktes mit Italien mit erheblichen Misstrauen gegenüber. Dieses geringe Vertrauen in deren staatsloyale Haltung, über Jahrzehnte gewachsen und aufgestaut im politischen Klima des Nationalismus, entfaltete schliesslich mit Ausbruch des Krieges in den Alpen seine volle Wirkung. Wohl erwies es sich im Hinblick auf die schwierigen alpinen Geländestrukturen und die Exponiertheit der Wohngebiete in der Tat als notwendig, die Zivilbevölkerung des Frontgebietes vermehrt vor feindlichen Angriffen zu schützen, doch die österreichische Militärverwaltung ging mehr aus panischer Furcht vor irredentistisch motivierten Anschlägen denn aus strategischen Überlegungen sogleich daran, ganze Landstriche des adriatischen Küstenlandes und des heutigen Trentino radikal zu entvölkern.[17]

Die Folgen waren absehbar: Das gesamte zivile Leben wie die landwirtschaftliche Produktion standen weitgehend still und eine neuerliche Flüchtlingswelle begann sich entlang der Alpentäler auf das Hinterland zuzubewegen. Schon im Vorfeld hatte jedoch angesichts der angespannten Versorgungslage des nördlichen Alpenraumes sowie mit Rücksicht auf die Stimmung der deutschen Bevölkerung der damalige Statthalter von Tirol und Vorarlberg, Friedrich Graf Toggenburg, die Wiener Zentralverwaltung davor gewarnt, dass sie «[...] für den Fall einer uns feindlichen Intervention Italiens Ausbrüche allgemeiner Erbitterung und vielfach fanatischen Hasses gegen alles, was italienisch ist, befürchten lässt und dass daher die Einzelunterbringung der unwillkommenen Mitesser in den Gemeinden und die Sorge für deren persönliche Sicherheit auf grösste Schwierigkeiten stossen müsste».[18] Nachdem auch die Armeekommandanten aus taktischen und operativen Gründen möglichst grosse Teile des alpinen Hinterlandes von zusätzlichen Belastungen der Nachschublinien freihalten wollten, verblieb den betroffenen Flüchtlingen in ihrer Mehrheit kaum eine andere Alternative, als sich in die staatlicherseits bereits festgelegten Unterbringungsgebiete Böhmens, Mährens, Ober- und Niederösterreichs sowie der Steiermark und Salzburgs einweisen zu lassen.

Betraf dieses Schicksal weitere insgesamt ca. 150’000 Flüchtlinge aus den südlichen Grenzgebieten der Habsburgermonarchie, so erhöhte sich damit die Gesamtzahl der Kriegsflüchtlinge bis Mitte 1915 auf den Höchststand von etwa einer Million.[19] Es schien alsbald klar zu werden, dass allein infolge dieser zahlenmässigen Dimension das gesellschaftliche Gefüge des betroffenen Alpenraumes ins Wanken zu geraten drohte. Denn trotz des ste-

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HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3